5 Fragen an ... Hakan Dağıstanlı – Architektonischer Kauderwelsch
Buchwelten:
1. Sie haben Architektur an der Hochschule Biberach/Riss und an der German-Jordanian University in Amman studiert: was waren die wichtigsten und prägendsten Inhalte des Studiums für Ihren Beruf als Architekt?
Eine grundlegende Besonderheit in Biberach zu studieren ist – neben dem modularen Aufbau zwischen anthroposophischen Ansätzen über Architektur- und Raumtheorie, baugeschichtlicher Wissensvermittlung und konstruktiver Praxis – der persönliche Bezug zu den Professoren selbst aufgrund der sehr niedrigen Aufnahmekapazität. So war ich in meinem Semester gemeinsam mit nur 18 Kommilitonen eingeschrieben! Zwar steigt dadurch auch der Leistungsdruck, da die Vergleichbarkeit der studentischen Arbeiten unmittelbar wird, dennoch habe ich das "Unter-uns-studieren" gemeinsam mit den europaweiten Pflichtexkursionen sehr geschätzt. Allen voran ist die Hochschule auch international gut aufgestellt und stark mit Partnerhochschulen vernetzt. Im Rahmen eines Auslandstudiums habe ich die Möglichkeit genutzt, um Kurse an der GJU in der jordanischen Hauptstadt Amman zu besuchen. Die dortigen Lehrinhalte waren mit englischer Unterrichtssprache zunächst eher amerikanisch geprägt, weil ein Gros des Kollegiums der jungen Architekturfakultät aus Yale oder Harvard kamen, dennoch wurden lokale Bezüge zur landeseigenen Architektur oft und eingehend thematisiert. Sehr prägend waren die Gedankenansätze meines Professors Dr. Rami Daher, der als großer Amman-Liebhaber uns Studenten viele städtebauliche Schichten der Stadt aufdecken und im Rahmen seiner Kurse vermitteln konnte. Insbesondere waren die Gastvorlesungen und die, hinsichtlich sozio-urbaner Aspekte vorbildlichen, Projekte des Architekten Ammar Khammash eine große Inspirationsquelle für mich, da sich jedes seiner Bauten eingehend mit dem Wesen und Geist des Ortes auseinandersetzte um mit den örtlichen Eigenheiten regelrecht zu verschmelzen oder/und eine direkte Wechselwirkung und In Bezugnahme der Bestandsbauten anstrebte. Zeitliche Freiräume waren zudem von der Universität gut organisiert und wurden ausgiebig für die Landeskunde und Reiseführungen genutzt. Gemeinsam mit den einheimischen Kommilitonen konnte sich mir dadurch Jordanien, sei es im gesellschaftlich-kulturellen Kontext oder seiner nahezu surreal wirkenden Topografie – die rote Felsenwüste Wadi Rum, die steinerne Felsenstadt Petra, das tote Meer, das antike Jerasha etc. – einmalig und äußerst individuell erschließen.
»Architecture is not about building landmarks, it’s about creating social qualities!«
Ammar Khammash, Architekt

Feynan Eco-Lodge
Unterkunft in einem jordanischen Naturreservat mit Lehmwänden und Sonnenbrechern aus Gesteinsplatten

Surreales Jordanien
Die antike Stadt Jerasha, die rote Felsenwüste Wadi Rum und die steinerne Stadt Petra.
2. Die Idee der türkischen Moderne in der Zeit der Frührepublik fasziniert Sie seit Ihrer Tätigkeit bei Adnan Kazmaoğlu / Architectural Research Center: wie ist diese Faszination entstanden und warum?
Im Anschluss an mein Auslandsstudium in Amman habe ich im Sommer 2011 ein mehrmonatiges Pflichtpraktikum bei Adnan Kazmaoğlu in Istanbul absolviert. Kazmaoğlu, selbst Professor an der Mimar Sinan Universität der bildenden Künste, leitet dort seit vielen Jahren ein etabliertes Büro. Die Tätigkeiten waren facettenreich und spannten einen weiten Bogen von Profan- über Sakralbauten bis über städtebauliche Entwürfe der nach wie vor sehr aktuellen und politisch vorangetriebenen Stadterneuerungen, allen voran in den Großstädten Istanbul, Ankara und Izmir. Er nahm mich in dieser Zeit fachlich sehr in Obhut und nutzte Gelegenheiten bei kräftigem Schwarztee, um mir seine architektonischen Gestaltungsansätze auch im baugeschichtlichem Sinne nahezulegen. So zeichnen sich in seinen Bauten stark modulare und geometrische Muster ab, derer sich der Vorreiter der Zweiten Nationalen Architekturbewegung (1923–1950) und prägendster Architekt seiner Epoche Sedad Hakkı Eldem (1908–1988) bereits bediente.
Eldem, selbst einst namhafter Professor an der Mimar Sinan Universität, galt als "Regionalist" zudem auch als wichtiger Wegbereiter der Etablierung einer akademischen Annahme und Durchleuchtung der gewachsenen landestypischen Architekturtypologien. So kam es nicht von ungefähr, dass Kazmaoğlu von seiner Handschrift beeinflusst und mit leuchtenden Augen über das perfekte Augenmaß von Eldem erzählte, da er selbst in seiner Studienzeit zu einem seiner Schüler gehörte!
Die hauseigene Büchersammlung bei Kazmaoğlu, die mit bibliothekarischer Präzision organisiert war, führte auch viele der Bücher von und über Eldem, die unerschwinglich, rar oder ausverkauft waren. Ich lieh mir viele dieser Bänder übers Wochenende aus – unter anderem auch ein Buch über Le Corbusiers Eindrücke und Memoiren seiner Istanbul-Reise – und war überrascht über die Vielfalt der polemischen Auseinandersetzungen, die sich mit der Idee einer türkischen Moderne während der Frührepublik befassten: Es ist fast schon erstaunlich, dass die ersten Bauten dieser Zeit einerseits äußerst monumental und nahezu ornamentlos errichtet worden sind aber dennoch als Hommage an die großen türkischen Meister verstanden werden will, da sie dezent durch architektonische Verweise einen versöhnten und stringenten Übergang zu vorangegangenen Epochen anschlagen.

Eldems dezente Bezüge an der naturwissenschaftlichen Fakultät
Frühosmanische Mauerwerksbauweise und Andeutungen der Segmentbögen über rechteckige Öffnungen.
»Das Hauptziel meines 50-jährigen Berufsleben war es, einen regionalen Architekturstil zu erschaffen.«
Sedad Hakkı Eldem, Architekt
3. Ihr Architekturführer Ankara erscheint in einer besonders turbulenten und in Teilen auch bedrückenden Zeit. Für das Buch sind Sie immer wieder nach Ankara gereist. Bitte beschreiben Sie Ihre Recherchen und die Herausforderungen, die damit zusammenhingen.
»Wenn wir die heutige und zukünftige Türkei verstehen möchten, müssen wir als Erstes
in den nächstbesten Zug nach Ankara einsteigen.
«Le Turquie Kemaliste (monatliche Zeitschrift), 1933
Meine Eltern stammen aus einer alteingesessenen Istanbuler Familie, insofern lag das "moderne" Ankara geographisch aber auch geistig sehr fern von mir. Die prachtvollen Bauten der osmanischen Ära auf der historischen Halbinsel, die hölzernen Yalı und Konakbauten entlang des Bosporus, die melancholischen Gassen der Labyrinth-artigen Altstadt, die Kuppeln- und Minaretten-durchdrungene Silhouette – all dies waren seit meiner Kindheit jene Eindrücke, die sich in meinem Verständnis einer türkischen Stadt manifestierten. Doch so wie sich das Osmanische Reich ohne Istanbul nicht erschließt, ist die moderne Republik Türkei ohne Ankara nicht zu verstehen.
Ankara, einst zwar wohlhabende aber kleine Provinzstadt im Schoße Anatoliens, wurde erst im Verlauf des türkischen Unabhängigkeitskrieges (1919–1923) als Zentrum des nationalen Widerstands gegen die Besatzermächte und der Kapitulationserklärung des jungtürkischen Triumvirats, mit der Ausrufung der Nationalversammlung auf die politische Weltbühne katapultiert. Nach dem Kriegsende, den die Türken für sich entscheiden konnten, wurde sie mit der Gründung der Republik 1923 zur neuen Hauptstadt gekürt und mit den visionären Leitvorstellungen des Staatsgründers Mustafa Kemal mit höchster Priorität und Kanalisierung landesweiter Haushaltsüberschüsse geplant zu einer modernen Stadt ausgebaut.
Ankaras Hauptstadtwerdung sollte im Ausbau nicht nur die junge Republik zementieren, sondern spiegelte inmitten des türkischen Kernlandes ein Gegenpol zum kosmopolitischen Istanbul, da sich die Republik in erster Linie als Nationalstaat definierte. Gemäß den kemalistischen Gesellschaftsreformen, die insbesondere ab 1930 radikal umgesetzt worden sind, wurde auch im Städtebau eine Wechselwirkung im Stadt-Mensch-Gefüge angestrebt. Ankara, das Gesicht der Republik sollte zum Vorbild für landesweite Städte werden. Hauptmerkmale der Baupolitik waren im Gegensatz zum additiven und kleinteilig gewachsenen Istanbul klar definierte Zonierungen der Flächennutzungen und Traufhöhen, Erschließung- und Sichtachsen, begrünte Gehwege und Parkanlagen und allen voran der "Meydan" – öffentliche Plätze, die als Aktionsflächen die ersten Gehversuche einer offenen Zivilgesellschaft wiederspiegeln und beflügeln sollten.
»Das Osmanische Reich erschließt sich nicht ohne Istanbul, die moderne Republik Türkei nicht ohne Ankara.
«Hakan Dağıstanlı, Architekt und Autor
Die dynamischen Jahre der Frührepublik sind heute jedoch festgefahren. Es stagniert. Die streng nationale Auslegung der Staatsdoktrin und die politische Zentralisierung sind das größte Hindernis auf dem Weg hin zu einer offenen und pluralistischen Gesellschaft. In vielen Bereichen des täglichen Lebens ist gar eine rückläufige Entwicklung zu beobachten: An öffentliche Plätzen gilt insbesondere nach den Gezi-Protesten striktes Versammlungsverbot, die Pressefreiheit ist massiv eingeschränkt, die Stimmen der Zivilgesellschaft insbesondere seitens der Intellektuellen werden unterdrückt oder unter Generalverdacht gestellt - allgemein hat die Hauptstadt bei meinen Recherchen und Aufenthalten aufgrund der prekären Sicherheitslage einen sehr verschlossenen Eindruck hinterlassen. Öffentliche Bauten sind kaum ohne eine Erlaubnis, deren Einholung mit hohen bürokratischen Hürden verbunden ist, zu betreten oder gar zu fotografieren. Die Verwaltung ist bestrebt, Symbolbauten durch massiven Wachschutz zu "schützen" anstatt die Ursachen der politischen Situation zu erkennen und die Konflikte mit einer offenen Dialogbereitschaft zu entschärfen. Beispielsweise war ich verwundert über die hohen Sicherheitsvorkehrungen allein nur an den Universitäten wie z. B. der Fakultät für Philologie, Geschichte und Geografie - eines der repräsentativsten Bauten der kemalistischen Institutionen in der Zeit der Frührepublik, 1939 von Bruno Taut erbaut. So stellt sich heute unweigerlich die Frage, warum ein Fakultätsgebäude nach außen hin abgeschirmt und geschützt werden muss - etwa ihrer Lehrinhalte wegen? Geographische Türkisierungen, Assimilierungspolitik, Geschichtsverzerrungen, die bis heute ungelöste Kurdenfrage etc.: die demokratischen Defizite des Landes sind meines Erachtens unter anderem auch an der hohen Anzahl von Wachmännern vor solchen Bauten abzulesen.

Kubistisch, funktional und modern
Die Idee einer republikanischen Hauptstadt. "Construit Ankara" – Ankara bauen.

Bedeutender Beitrag von Şevki Balmumcu zur türkischen Moderne
Das staatliche Ausstellungszentrum, errichtet 1934 in der Frührepublik. Neoklassischer Umbau zur Staatsoper von Paul Bonatz 1948.

Der Kızılay-Platz (um 1940)
Öffentliche Plätze als Ausdruck gesellschaftlicher Reformen.

Bruno Tauts repräsentativster Bau
Die Fakultät für Philologie, Geschichte und Geografie.
4. Wie sehen Sie die Situation der türkischen Hauptstadt aus städtebaulich architektonischer wie aus atmosphärischer Sicht heute?
Knapp 100 Jahre nach der Republikgründung hat die Hauptstadt Ankara viel von den einstigen Idealen und Errungenschaften der Moderne eingebüßt. Unzählige der republikanischen Erinnerungsorte, allen voran der Ulus-Platz mit dem ersten errichteten Atatürk-Denkmal der Stadt wirken sehr verschlissen, wo hingegen religiöse Wallfahrtsorte und die osmanische Altstadt mit teilweise überstilisierten Restaurierungen herausgeputzt und verkitscht wirken.
Die heutige Baupolitik nährt die Annahme, dass die Stadtverwaltung darin versucht ist, Ankara wider den modernen Gründungsmythos zu "istanbulisieren": seldschukische oder osmanische Elemente der Fassadengestaltung werden in den neu errichteten Ministerialgebäuden oder Bauten der öffentlichen Hand imitiert, neu aufgestellte Uhrentürme oder Stadttore allen voran der neue Präsidentenpalast zeugen von stilistischem Kauderwelsch in "neo-osmanischer" Manier und erinnern eher an Disney World als an die anmutigen Bauten der alten Meister. Das moderne Architekturerbe insbesondere Wohnanlagen und Siedlungen der Frührepublik werden verdrängt oder gänzlich abgetragen um durch Neubauten Profit zu schlagen: Gated Communities und gesichtslose Wohnquader prägen immer mehr das Wesen der Stadt.

Altstadt-Staffage
Überstilisierte Restaurierungen der Altstadt.

Wider den modernen Gründungsmythos Ankaras
Neu platzierte Uhrentürme im "neo-osmanischem" Stil.

Istanbulisiert
Neu errichtete Stadttore entlang der Erschließungsstraßen.

Geschlossene Gesellschaft
Gated Communities prägen immer mehr das Gesicht der Stadt.

Ikone des Brutalismus und bedeutendes Architekturerbe in Ankara
Die Pforte des Abgeordnetenhauses (1978) von Behruz Çinici

Trotz massiver Proteste
Das Abgeordnetenhaus (1978) von Behruz Çinici wird derzeit ohne berechtigten Grund abgerissen.
Just zu diesem Zeitpunkt beispielsweise wird das Abgeordnetenhaus (1978) im Regierungsviertel von Behruz Çinici – ein äußerst schützenswerter Bau und wichtigster Vertreter des Brutalismus in Ankara – ohne berechtigten Grund trotz massiver Proteste der Architektenkammer, abgerissen um Flächen für einen Neubau zu gewinnen. Die bisherigen Entwicklungen schüren leider keine Hoffnung, dass an Stelle der alten Bausubstanz etwas gleich- oder höherwertiges errichtet werden wird. Mehr denn je wird die städtische Baupolitik heute, statt sich aus der Fortführung ihrer Historie heraus zu definieren im Namen von Ideologien missbraucht – dabei verkümmert die Architektur als reiner Selbstzweck zu einem Instrument der Machthabenden.
5. Wo ist Ihr Lieblingsort in Berlin und außerhalb der Stadt und warum?
"Dein Haus ist nur so schön wie dein Nachbar", heißt es im türkischem Volksmund. Entsprechend ist eine Stadt so schön wie ihre Einwohner. Meine Lieblingsorte in Berlin manifestieren sich somit nicht ortsspezifisch oder architektonisch bedingt sondern assoziativ mit Menschen, die mich an einem bestimmten Ort umgeben und inspirieren.

Architekturführer Ankara
Erschienen bei DOM publishers

Hakan Dağıstanlı
Architekt und Autor des Architekturführer Ankara
Architekturführer Ankara
Von Hakan Dağıstanlı. Bei DOM publishers. Mit Beiträgen von Jan Dimog, Hendrik Bohle und Klaus Kreiser. 135 × 245 mm, 260 Seiten, 550 Abbildungen, Softcover. ISBN 978-3-86922-448-0
Hakan Dağıstanlı
Jahrgang 1981, geboren in Ulm, Architekt B.A. Hat an der Hochschule Biberach und an der GJU in Amman studiert. Wohnt und lebt in Berlin.
Ankara
Früher Angora (antiker Name altgriechisch Ἄγκυρα Ankyra, lateinisch Ancyra), ist seit 1923 die Hauptstadt der Türkei und der gleichnamigen Provinz Ankara. Die Stadt, die nach türkischem Recht als Großstadtgemeinde (Büyükşehir Belediyesi) verfasst und nunmehr flächen- und einwohnermäßig mit der gleichnamigen Provinz identisch ist, hatte 2015 5,27 Millionen Einwohner und ist damit nach Istanbul die zweitgrößte Stadt des Landes. (Wikipedia)