


Vorarlberg ist bekannt für ausgezeichnete Baukultur und Handwerkskunst wie z. B. die berühmten sieben Bushaltestellen in Krumbach, Bregenzerwald, von international renommierten Architekten. Der Biosphärenpark Großes Walsertal kommt etwas bescheidener und stiller daher. Einer größeren Öffentlichkeit weitgehend unbekannt stößt man aber auch hier auf erstklassige Baukultur und eine fast unberührte Natur.
Das Tal ist eine der am dünnsten besiedelten Regionen Österreichs. Gerade einmal achtzehn Menschen leben hier auf einem Quadratkilometer. Auf einer Länge von etwa 25 Kilometern von Ost nach West gibt es sechs Gemeinden, vierzig Berggipfel und knapp 3.500 Bewohner. Das vom Gebirgsbach Lutz tief eingeschnittene Tal wurde im 13. Jahrhundert durch Walser, aus dem heutigen Schweizer Kanton Wallis kommend, besiedelt. Diese gaben dem Tal seinen Namen. Deren Tradition eines naturverbundenen Lebens pflegen seine Bewohner bis heute. Seit 2000 zählt das Biosphärenreservat Großes Walsertal zum UNESCO-Netzwerk einer von weltweit 701 Modellregionen in 124 Staaten, die sich einer nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise verpflichtet haben. So ist das „Leben und Arbeiten im Einklang mit der Natur“ seit jeher der Leitgedanke des Großen Walsertals.
Entwicklungszone, Pflegezone und Kernzone
Ein Schlüssel dazu ist die bis heute praktizierte Dreistufen-Landwirtschaft, bei der der Almauftrieb zunächst auf eine mittlere Höhenstufe erfolgt und das Vieh erst in den Sommermonaten auf die Hochalpe getrieben wird. Mehr als ein Drittel der Gesamtfläche des Großen Walsertals sind Alpflächen und Weidegesellschaften. Anders als die Almen sind die Alpen hier kleine Dorfgemeinschaften. Das Land ist in der Regel in gemeinschaftlichem Besitz. Nur die Bauten gehören den Familien bzw. den jeweiligen Betrieben.
Wie alle Biosphärenparks ist das Tal in mehrere Zonen eingeteilt: in die Entwicklungszone, Pflegezone und Kernzone. Einen guten Überblick vermittelt das biosphärenpark.haus in Sonntag. Das Holzschindel-verkleidete Gebäude schmiegt sich sanft in eine Kurve entlang der zentralen B88. Ursprünglich von einer Genossenschaft gegründet, übernahm es vor einigen Jahren das Biosphärenpark-Team, um über deren Arbeit und Projekte zu informieren. Nebenbei wird Käse produziert. Im Keller befindet sich eine hochmoderne Sennerei, in der jährlich 1.000 000 Liter Milch zu hochwertigem Käse verarbeitet wird. Selbstverständlich kommt das Rohprodukt von den grasenden Kühen der umliegenden Alpen.
Familiengeführte Betriebe statt großer Hotelketten
Nachhaltigkeit und Naturverbundenheit stehen im Tal an erster Stelle. Große Hotelketten sucht man vergebens. Die meisten Unterkünfte sind familiengeführte Betriebe mit einer überschaubaren Anzahl an Zimmern und einer langen Tradition, wie der Alpengasthof Bad Rothenbrunnen, den man über einen Saumweg nur zu Fuß erreichen kann. Seine Geschichte ist blutig. Der Legende nach begann sie mit einem Hirten, der seinen verletzten Fuß auf Anraten der Mutter Gottes in der nahe gelegenen Quelle badete. Sogleich wurde an seiner Heilstätte, „dem roten Brunnen“ ein Badehaus errichtet. Schnöde Analysen belegen, das es sich bei den rostroten Steinen lediglich um Eisenablagerungen des Mineralwassers handelt, das aus dem Fels tritt. Hinreißend ist der Ort allemal. Der heutige Gasthof wurde 1834 als Kurhaus errichtet und zeugt als eines der wenigen erhaltenen Alpenkurhäuser vom Charme des 19. Jahrhunderts, inklusive Mobiliar. Es lohnt auch ein Blick in die kleine Marienkapelle oberhalb des Weihers. Ihre leuchtend bunten Bleiglasfenster schuf die afghanische Künstlerin Mahbuba Maqsoodi.
Sehr viel profaner ist die Geschichte des Walserhauses im benachbarten Sonntag. Der mittlere Teil des heutigen „Museum Großes Walsertal“ ist mit 500 Jahren eines der ältesten Häuser des Ortes. Im Laufe der Jahrhunderte war es Wohnhaus, Gasthaus, Sennerei und Bäckerei. Seit 1981 informiert es über das beschwerliche Leben der Walser im Tal. Direkt nebenan hat die Familie Kathan ihr Haus behutsam erweitert. Die Fassade des „Gasthof Krone“ ist traditionell mit Holzschindeln bekleidet. Auch im Innenraum kamen ausschließlich regionale Hölzer zum Einsatz.






Klassische Moderne mit der Holzhandwerkstradition verbinden
Das überwältigende Bergpanorama vor Augen versteht man sofort, warum sich der Eremit Gerold hier vor über 1.000 Jahren niedergelassen hat. Über seinem Grab entstand nach seinem Tod 978 zunächst eine romanische Kirche. 1280 folgte der Anbau eines Klosters, das bis 1939 von Benedektinern bewohnt wurde. Die Propstei St. Gerold ist die kulturelle Keimzelle und das spirituelle Zentrum des Tals. Seine Lage und die eingeschriebenen Zeitschichten machen sie zu einem besonderen Ort. Ganz im Sinne der benediktinischen Ordensregel, die besagt, dass Gebet, Weiterbildung und manuelle Arbeit ein ganzheitlicher Weg zu einem erfüllten Leben sind, befindet sich hier heute ein Bildungs-, Seminar- und Kulturzentrum mit Gästehaus und Bio-Landwirtschaft in einer ausgezeichneten Architektur von Hermann Kaufmann. Der Vorarlberger Architekt und Hochschullehrer gilt international längst als einer der führenden Protagonisten des Holzbaus. Sein Werk ist sowohl von den Ideen der klassischen Moderne, als auch von der Holzhandwerkstradition seiner Heimat geprägt. Dieser Ansatz lässt sich besonders gut an seiner bereits 1997 entstandenen fabelhaft leichten Halle für therapeutisches Reiten ablesen. Er löste die Fassaden geradezu auf und lässt das hangparallele Pultdach über dem Platz schweben. Weitere Umbauten folgten, bei denen er erneut Fingerspitzengefühl bis ins kleinste Detail bewies. Kaufmann verbaute gezielt feine Hölzer aus dem Propstei-eigenen Forst. Seine Eingriffe bilden einen angenehmen Kontrast zum historischen Bestand und respektieren zugleich seine Substanz. Und das spürt jeder, der hierher kommt, wie mir der Bauherr Pater Kolumban Reichlin bei meinem Rundgang begeistert erklärt:
"Die Gäste sind ergriffen von der Atmosphäre dieses Ortes. Sie sind begeistert von der Architektur und davon wie das Neue mit dem Alten korrespondiert."
Pater Kolumban Reichlin, Propstei St. Gerold
Sehr viel bescheidener sind die Arbeiten des jungen Architekten Martin Mackowitz. Sein wandelbarer Kulturpavillon an der Burgruine Blumenegg fügt sich aus einfachen Materialien und haucht dem mehr als 700 Jahre alten Stein neues Leben ein, weitgehend ohne in den noch vorhandenen Bestand einzugreifen. Alles lässt sich leicht wieder entfernen. Zugleich avancierte der Ort zu einem kulturellen Hotspot des Tals. Der Verein „Burgfreunde“ kümmert sich seit 2007 um die Sanierung der Ruine. Mackowitz ist Mitinitiator vieler kleinerer Interventionen im Tal. So auch bei der Neuerfindung der jährlich stattfindenden Schwefelbade-Session am Gebirgsbach Lutz. In der Nähe des Örtchens Buchboden am anderen Ende des Tals entspringt eine der stärksten Schwefelquellen des Landes. Der dortige Brunnen ist schon seit Jahrhunderten für Waschungen, Tauchbäder und als Kneippbecken öffentlich zugänglich. 2012 wurde die Anlage von Mackowitz in Zusammenarbeit mit AO& runderneuert. Das Wasser aus den Trinkwasserquellen wird in einem Becken mit 3.000 Litern Fassungsvermögen und Platz für acht bis zehn Personen von einem integriertem Holzofen auf bis zu 40 Grad erhitzt. Seitdem rücken die Vereinsmitglieder des Walsertals noch etwas enger zusammen.







Baukulturell anspruchsvolle Gemeindezentren mit Mehrfachnutzung
Eine so dünn besiedelte Region wie das Große Walsertal erfordert alternative Ideen, um eine funktionierende Infrastruktur für die Einwohner zu gewährleisten. In den vergangenen Jahren wurde das öffentliche Verkehrsnetz ausgebaut. Es gibt sechs Kindergärten, sechs Volksschulen, sowie eine Mittelschule. Acht Regionalläden versorgen die Gemeinden mit Produkten aus der Region. Ein weiterer Schlüssel sind die baukulturell anspruchsvollen Gemeindezentren, die in der Regel mehr als nur eine Nutzung haben. So war das bereits 2005 eröffnete Gemeindezentrum Ludesch ein Pionierwerk in Europa. Das von Hermann Kaufmann entworfene Gebäude erhielt nationale sowie internationale Auszeichnungen. Wie im gesamten Tal hat auch hier der Umweltgedanke Tradition. 1994 beschloss die Ortsverwaltung den Beitritt zum Internationalen Klimabündnis. 1995 wurde eine Bilanz über den Zustand und den Energieverbrauch der örtlichen Bausubstanz erstellt, auf deren Grundlage 1997 ein lokales Fördermodell für Energiesparmaßnahmen aufgesetzt wurde. Ludesch wurde 1998 Mitglied im „e5-Programm“ des Landes Vorarlberg, einer Initiative zur Qualifizierung und Auszeichnung von energieeffizienten Gemeinden. In den folgenden Jahren wurden weitere Gemeindezentren nach diesem Vorbild in St. Gerold, Blons und Raggal errichtet. Das Große Walsertal zeigt, wie mit nachhaltig umgesetzten Visionen gerade in strukturschwachen Regionen mit einer geschickten Verknüpfung von Funktionen, nachhaltig und mit hohen Lebensqualität geplant werden kann.








Wir danken der Alpenregion Bludenz Tourismus GmbH und Partnern für die Unterstützung unserer redaktionell unabhängigen Recherchereise. Mehr über Bauwerke und Baumeister in Österreich: hier.