40 Jahre Planstadt, Teil 2: Do-it-yourself-City – Stadtkultur in Almere
Almere. Niederlande. Grachtengemütlichkeit und den Niedlichkeitsfaktor anderer Orte mit ihren fein geputzten Altstädten findet man hier nicht. Wir haben den vor über vier Jahrzehnten neu gegründeten Ort besucht und zeigen einige der architektonisch-städtebaulichen Besonderheiten. Teil 2 unseres fotografisch-architektonischen Rundgangs: Almere Haven und De Realiteit.
Dranbleiben, weitermachen, sich entwickeln
"Die hässlichste Stadt der Niederlande", so titelte 2008 die überregionale Tageszeitung de Volkskrant (dt. die Volkszeitung) über Almere. Was sagt Marge Kleinenberg dazu? Sie ist Projektmanagerin der "De Nieuwe Bibliotheek". Das von Meyer en Van Schooten Architecten und Barry van Waveren geplante keilförmige Gebäude schiebt sich einem Schiff gleich auf dem zentralen Stadhuisplein. Hier sehe ich wenig von Hässlichkeit. Genauso wenig wie am Schipperplein, wo wir auf die Bauten von SANAA, Alsop und René van Zuuk Architekten blicken. Das Ganze sieht eher nach lustvollen, spielerischen Architekturabenteuern aus. Zukunftsgewandt und innovativ. Sie lächelt die Schlagzeile weg. "Lass sie das schreiben. Ich lebe seit vielen Jahren in Almere, mein Sohn ist hier zur Welt gekommen." Sie erzählt, wie sich die Stadt gewandelt habe, wie ihr Sohn und mit ihm eine ganze Generation Almere präge und gestalte. Wie diese den Retortenort ganz selbstverständlich als ihre Heimat annehmen und anerkennen. Vielleicht ist auch das Almere: Hartnäckigkeit und Beständigkeit, gepaart mit Kreativität und Modernität. Die Entwicklungen von einer Pionierstadt mit kaum mehr als einigen Dutzend Häusern ab 1975 bis zur 200.000-Einwohnerstadt, die sich zu einem der wichtigsten Architekturorte der Niederlande gemausert hat, sprich für eben das: dranbleiben, weitermachen, sich entwickeln. Wir stehen in der Nähe der Casa Casla von Lanoire & Courrian Architectes aus Bordeaux, einem flachen Bau, der sich trotz Kantigkeit elegant gen Wasser und Himmel öffnet. Dahinter ist die Olstgracht mit Wohnhäusern im Stile der Amsterdamer Grachtenarchitektur. Marge Kleinenberg kommentiert die Olstgracht so: "Wir sollten Amsterdam nicht kopieren. Das sind wir nicht. Wir sind das da." Sie schaut auf den eckigen Casa Casla, den schwungvollen The Wave-Wohnblock, die Blob-Architektur des Urban Entertainment Centre von Alsop. Womit die Frage nach Schönheit mit Kühnheit und Eigenständigkeit beantwortet ist.
In Almere Haven treffen wir mit Marie-Josée Röselaers eine ausgewiesene Almere-Expertin, die seit vielen Jahren als Stadtführerin und Kennerin der Architektur arbeitet. Ähnlich wie Kleinenberg weiß sie um Details, Anekdoten und die Raffinesse der almerischen Baukunst. Mit von ihr konzipierten Karten- und Informationsmaterialien geht es zur historischen Erkundung des ältesten Teils der Planstadt. Wir erfahren, dass der erste Pfahl für Wohnungen am 30. September 1975 eingeschlagen wurde. Die ersten Bewohner kamen am 30. November 1976. Der Stadtplaner Henk van Willigen war für Almere Havens Gestaltung zuständig, während der Hauptentwurf von Almere von Teun Koolhaas (1940–2007) stammt, dem Neffen von Rem Koolhaas. Bei dem letztgenannten weist sie auf einen blau-weißen Flachbau hin, der Polizeistation von Almere Haven. "Das war das erste Gebäude überhaupt von Rem Koolhaas. Und es steht hier!", sagt sie sichtlich stolz. Dass nicht alles klug geplant war in der Anfangszeit veranschaulicht sie am Hafen. "Almere Haven nennt sich Hafen, aber es gab überhaupt keinen Hafen. Der Stadtteil kehrte dem Wasser den Rücken zu. Erst später öffnete sich der Ort." Die zahlreichen Restaurants, Cafés, Boote und Jachten geben dieser Öffnung Recht. Aber das gehört zum Lernprozess dazu. Nur weil es sich Planstadt nennt, ist nicht alles durchdacht und geplant. Im Gegenteil. Der andere Teil der Almere DNS ist seine freizügige Bau-Dir-Dein-Traumhaus-Einstellung. Dazu fahren wir nach "De Realiteit", einem Areal am anderen Ende von Almere. Denn hier wurde in den 1980er-Jahren die Phase der experimentellen Stadtarchitektur eingeläutet. Die Vorgaben für das Areal: die Gestaltung eines fantasievollen, temporären Hauses auf einem Stück Land mit jeweils 450 Quadratmetern. Befreit von strengen Bauauflagen, einem Flächennutzungsplan oder anderen Bedingungen entstanden hier 17 Bauten, die zum großen Teil noch immer stehen und inzwischen zur Pilgerstätte nicht nur für Anhänger der experimentellen Bauweise sind, sondern auch für diejenigen, die sehen wollen, wie kostengünstige, Energie sparende Gestaltung funktioniert. Dass diese Recycling-Architektur auch noch voller Fantasiekunst steckt, komplettiert es. Das Quartier ist eine Mischung aus Zauber, Natur und Baulust. Da gleicht ein Haus einer Amphibie, ein gläserner Erker streckt sich gen Himmel, ein Hobbithaus hockt sich in den Garten und wie das Gebäude mit dem Namen "Es fliegt ein Vogel unter unserem Haus" aussieht, muss man einfach selbst erleben. Oder wie es der Direktor des Architekturzentrums Casla, Ans van Berkum, in dem "Architekturguide Almere" formuliert: "Urban fabric is interwoven with nature." Wie die Stadt mit der Natur verbunden werden kann: hier in De Realiteit ist es gelungen.