Baumeister der Zwanziger – Der Geheimniskrämer
Buchwelten:Der expressionistische Keil
Aus der Luft betrachtet, sieht das Kulturzentrum „Uferhallen“ wie ein Keil aus. Zwei Seitenflächen, die zu einem spitzen Winkel zusammenlaufen: dynamisch, vorwärts gerichtet und in seiner klaren Anordnung kraftvoll und unmissverständlich. Die im Bezirk Berlin-Wedding befindlichen Uferhallen waren einst die Zentralwerkstätten der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Früher war hier ein großer Pferdebahnhof, entworfen und von 1926 bis 1936 systematisch vom Berliner Architekten Jean Krämer zum Werkstattkomplex der Großen Berliner Straßenbahn AG umgebaut. Jean Krämer: Atelierchef im Büro von Peter Behrens, in dem auch die Architekten Mies van der Rohe, Walter Gropius und Le Corbusier arbeiteten. Expressionist, der nicht so recht in die Strenge der Bauhaus-Moderne passte. Der große Unbekannte der Berlinarchitektur und gleichzeitig so präsent im heutigen Stadtbild, dass es überrascht wie er in Vergessenheit geraten konnte.
Am Beispiel der Uferhallen zeigt sich diese Krämersche Präsenz und heutige Relevanz. 2007 wurde der Komplex von der Uferhallen AG erworben und etabliert sich seitdem als Arbeits-, Projekt- und Wohnraum für Künstler, Musik und Tanz. Den Teilumbau der Uferstudios übernahm das Berliner Büro Anderhalten Architekten, die 2010 einen behutsamen Umbau des denkmalgeschützten Ensembles präsentieren konnten, der sich in erster Linie auf den Innenraum konzentrierte. Fassaden, Decken und Wände blieben erhalten. Umbau und Krämerarchitektur bilden eine gute Symbiose. Sein Backsteinexpressionismus zeigt sich in seiner wohldosierten Form mit der vorkragenden Klinkerbänderung wirkungsvoll und passend, symbolisiert sie in ihrer klaren Gradlinigkeit den Schwung und die Bewegung des Berlins der Zwanziger.
Die produktive Verschmelzung
Überhaupt die Zwanziger. Das Berlin jener Ära bebte vor Leben und ächzte unter dem Elend, gleichzeitig blühte das Kulturleben der Hauptstadt, in der damals über vier Millionen Menschen lebten. Just in diese Epoche realisierte ein Architekt ein Projekt nach dem anderen. Jean Krämer zählte in jenen Jahren zu den produktivsten Architekten Deutschlands. Er baute für die Berliner Straßenbahn-Betriebsgesellschaft und die AEG gewaltige Industrieanlagen. Bildungsstätten, Wohnhäuser und große Siedlungen wie die Schule Wittenau, Haus Schuppan und die Gartenstadt Südwestkorso gehörten ebenso zu seinem Portfolio. Neben einer hohen Produktivität zeichnet Krämer eine Detailverliebtheit aus, zu der auch der Entwurf von Türbeschlägen und die Entwicklung von trapezförmigen Fliesen für die Treppenhäuser gehörte. Heute sagt man: alles aus einer Hand. Damals war er auch ein Querkopf, der dem populären Trend zur Separierung von Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr nicht nacheiferte. Für ihn waren Architektur und Städtebau eins. Oder wie es in der Einleitung des Buchs und Bildbands „Jean Krämer Architekt“ heißt: „Krämer schuf eine kontextualistische Architektur, die sich in die Textur der bestehenden Stadt eingliedert. Seine Siedlungen stellen durchkomponierte Raumabfolgen dar, bei denen der städtische Raum mit architektonischen Mitteln strukturiert und geordnet wird.“
Das lebendige Erbe
Sie kennt ihn seit über anderthalb Jahrzehnten. Das erste Mal begegnete die Berliner Kunsthistorikerin Karen Grunow dem Architekten Jean Krämer zu Beginn ihrer journalistischen Karriere. Damit war der gedankliche Wiederhaken gesetzt. Denn die nächste Begegnung erfolgte einige Zeit später während ihres Studiums der Kunstwissenschaft, wo sie sich mit Denkmalpflege auseinandersetzte. Viele Jahre später und nach umfangreichen, nicht enden wollenden Recherchen sitzen wir im Café Pförtner der Uferhallen. Sie nennt die Forschungen „uferlos“. Warum? Weil Krämer hochproduktiv war und viel hinterließ. „Gigantisch“, sagt Grunow. „Die Quellenlage ist schwierig. Überhaupt sind nur wenige Quellen vorhanden. Es gibt keinen Nachlass, keine echte Übersicht. Man muss suchen, kramen ...“ Was gut zu ihrer Dissertation zum Werk von Jean Krämer passt. Denn sie forscht weiter. Vor der Arbeit an dem Buch „Jean Krämer Architekt / Architect“ hatte sie um die 50 Projekte des Architekten recherchiert. Jetzt sind es über 70. Einer ihrer Favoriten: die Jean-Krämer-Schule in Wittenau. Mit seinem im Drittelkreis geschwungenen dreigeschossigen Bau scheint die Schule die drei Straßen Alt-Wittenau, Roedernallee und Oranienburger Straße wie ein in Klinker gefasster Bogen zusammenzuführen – ein zum Stadtraum orientierter, eigenständiger Bau. Ähnlich wie die Uferhallen ist die 1931 als Doppelvolksschule für Jungen und Mädchen eröffnete Bildungsstätte heute nach wie vor ein lebendiger, gut genutzter Ort. Mehr kann sich ein Architekt als Erbe kaum mehr wünschen.
"Jean Krämer Architekt / Architect"
Über 80 Jahre: so lange sollte es dauern, bis es mit dem Band (Weimarer Verlagsgesellschaft) von Stanford Anderson, Karen Grunow und Carsten Krohn wieder eine umfassende Publikation über den Berliner Architekten geben sollte. Die letzten Veröffentlichungen erschienen zur Krämerschen Hochphase in den Zwanzigern. Das nun vorliegende und kürzlich publizierte Buch ist nicht nur eine Zusammenfassung seiner Arbeiten, sondern auch eine intensive und profunde Auseinandersetzung mit einem Architekten, dessen Bauten nach wie vor präsent sind und von seinen Nutzern wie Bewohnern gleichermaßen geschätzt wird. Das Buch spiegelt Krämers Liebe fürs Detail mit der gleichen Gründlichkeit, in dem es sein Schaffen aus verschiedenen (Autoren)Perspektiven beleuchtet und dies auch bildhaft darzustellen vermag. Ein wichtiges Werk über einen wichtigen Architekten Berlins.
Jean Krämer
1886–1943, deutscher Architekt. Realisierte in Berlin und im Umland zahlreiche Bauten. Verband Elemente des Expressionismus mit Neuer Sachlichkeit. Wird wegen seiner Um- und Neubauarbeiten verschiedener Berliner Straßenbahnbetriebshöfe in den 1920er Jahren als „Hausarchitekt der Berliner Straßenbahn“ bezeichnet. Quelle: Wikipedia
"Jean Krämer – Architekt / Architect"
Von Stanford Anderson, Karen Grunow, Carsten Krohn. Bei Weimarer Verlagsgesellschaft. Auflage 2015, 240 S., 313 teilweise farbige Abbildungen, gebunden mit Schutzumschlag, Text dt./engl., 22 x 28,5 cm.
Stanford Anderson
Prof. Ph. D Stanford Anderson war Architekt und Professor für Geschichte und Architektur am Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Karen Grunow
Karen Grunow studierte Kunst- und Literaturwissenschaft sowie klassische Archäologie. Sie arbeitet als freie Journalistin.
Carsten Krohn
Carsten Krohn studierte Architektur, Kunstgeschichte und Stadtplanung in Hamburg und New York. Er ist als Architekturpublizist tätig.
Inge Fernando
Wurde 1938 in Berlin geboren und ist die Tochter von Krämer. Emigrierte mit ihrer Mutter 1948 nach Australien. Besitzt Unterlagen, die sie ab 2011 Stanford Anderson zugänglich machte. Der Kontakt zum MIT-Professor setzte vieles in Bewegung, das im Zusammenspiel mit anderen Ereignissen zur Publikation führte. Eine Würdigung einer wie sie schreibt „‚Unbekannten’, um die Welt an einen der ‚Großen Unbekannten’ Deutschlands zu erinnern: an den Architekten Jean Krämer.“