Porträt des Ekistikers und Architekten Constantinos A. Doxiadis – Entopia
Ecumenopolis: Die Weltstadt. Eine zusammenhängende Megasiedlung mit 100.000 Einwohnern pro Quadratkilometer. So groß wie der nordamerikanische Kontinent, eingebettet in Landschaftsschutzgebiete und in weitere Flächen zur Gewinnung von Nahrung, Wasser und Mineralien. Zusammen bedecken sie zu je einem Drittel die Hälfte des Erdballs. Und der Rest? Zu lebensfeindlich! Nicht bewohnbar! Unzugängliches Gebirge, Polargebiete, Steppen und sengend heiße Wüsten. Diese Orte liegen außerhalb der Über-Kolonie. 50 Millionen Menschen, so die Prognose, werden hier leben. Die Ekistiker befragten dazu weltweit Experten aus allen möglichen Fachgebieten. Sie gingen davon aus, dass das Bevölkerungswachstum letztlich zum Stillstand kommen würde. Schon Ende des 21. Jahrhunderts könne es soweit sein. Die Lebenswirklichkeit auf der Erde wird sich bis dahin komplett verändert haben, die Spitze der Zivilisation erreicht sein. Ethik, Kunst und Bildung wären die entscheidenden Werte dieser Zeit. Geld spiele keine Rolle mehr, der Unterschied zwischen Industrie- und Agrarnationen vaporisiert. Nationen? Gibt es weiterhin und mit ihnen ihre lokal-kulturellen Charakteristika. Um das absolute Chaos zu vermeiden und dem dystopischen Szenario möglichst wirkungsvoll zu begegnen, wurden alle erforderlichen Rahmenbedingungen erfasst und kartiert. Doxiadis definierte zudem verschiedenmaßstäbliche Siedlungseinheiten (sogenannte "ecistic units"), die innerhalb dieser globalen Stadt, hierarchisch strukturiert, angeordnet werden sollten. Als kleinste Einheit: der Mensch (Anthropos). Er und sein Wohlbefinden standen für Doxiadis immer im Mittelpunkt. Ecumenopolis, als die größte Einheit (50.000.000 Personen), und zukünftiger, gemeinsamer Lebensraum sollte ganz auf den Menschen ausgerichtet sein. Das Modell verstanden die Ekistiker dabei nicht als eine statisch zementierte Theorie, sondern als einen fortwährend zu überprüfenden Leitfaden, der als gültiger Rahmen für zukünftige Siedlungsplanungen zu nutzen sein sollte.
Mittlerweile sind wir im 21. Jahrhundert angekommen. Klimaveränderungen, nationalstaatliche Implosionen, wirtschaftliche und politische Verwerfungen führen vielerorts zu schwer kontrollierbaren Migrationsbewegungen. Die Verstädterung der Welt scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein. Sowohl in schrumpfenden als auch in stark wachsenden Regionen wächst der Druck auf die urbanen Zentren, informelle Siedlungen entstehen, kleinere Gemeinden werden preisgegeben. Ecumenopolis, so scheint es, ist schon bald Gegenwart. Bereits 2011 beleuchtete der türkische Regisseur Imre Azem in seinem gleichnamigen Film sehr eindrücklich die städtischen Fehlentwicklungen seiner Heimatstadt Istanbul. Dabei stellte er sie in einen globalen Zusammenhang mit anderen Megastädten. 2013 folgte eine zweite Langzeit-Dokumentation zu urbanen Transformationen mit dem Titel "Agoraphobia - Investigating Turkey's Urban Transformation". Angesichts derzeitiger Entwicklungen wird deutlich, dass der Mensch wieder verstärkt in den Mittelpunkt gerückt werden muss. Weltweit strömen Menschen auf die Straße und fordern ihr "Recht auf Stadt". Eigentlich ein alter Hut. Der französische Soziologe und Philosoph Henri Lefebvre hatte bereits 1968 mit seinem viel zitierten Buch "Le droit à la ville" diesen Anspruch erhoben. Heute bilden vielerorts offene Gemeinschaften und alternative Netzwerke selbstorganisierte Gegenmodelle zu den gesellschaftlich gefestigten Routinen, nicht zuletzt auch durch eine verstärkte Vernetzung mittels digitaler Medien. Die Schlagworte sind: Do-it-Yourself Urbanismus, Co-working Spaces, Flashmobs, Urban Gardening. Der Mensch rückt sich selbst in den Mittelpunkt, nachdem er über Jahrzehnte hinter Auto und die Investitionsindustrie zurückgedrängt wurde. Unterstützt wird er dabei von einer neuen Generation von Planern wie dem diesjährigen Pritzker-Preisträger Alejandro Aravena oder dem Kollektiv Urban Think Tank, die mit Bottom-up-Strategien Städte aufwerten und informell explodierte Stadtteile handhabbarer machen. Hinzu kommen Stadtplaner wie der Däne Jan Gehl, der schon seit Jahren für die Aufwertung urbaner Räume sensibilisiert. Sie alle sind ganz nah bei Doxiadis. Ihr gemeinsamer Konsens: Entopia. Doxiadis Idealstadt sollte nach den Bedürfnissen menschlicher Gemeinschaften errichtet werden, gebaut von Menschen für Menschen, nach menschlichem Maßstab und nicht getrieben durch finanzielle Interessen.
Doxiadis war eben nicht nur Theoretiker. All seine Studien und Gedanken fanden auch erfolgreich Eingang in städtebauliche Planungen wie die für die neue pakistanische Hauptstadt Islamabad, die Erweiterung Bagdads oder Stadtreparaturen in Detroit. Als Architekt schuf er unter anderem den Campus der Punjab-Universität in Lahore (1960), die "National Hellenic Research Foundation" in Athen (1975) und das bereits erwähnte Bürogebäude im Athener Kolonaki-Viertel (1958). Auch im Sinne seiner entopischen Überlegungen errichtete er das Gebäude am Rande des ruhigen Lycabettus-Hügels einerseits zur Natur, den Pinienwäldern und Felsformationen, andererseits zur Stadt und zur bedeutenden Akropolis hin aus. Eine natürliche und zugleich kulturell geprägte Umgebung war für ihn perfekt für visionäre und kreative Prozesse. Im Stil der Moderne gruppierte er drei Gebäudeflügel in unterschiedlicher Höhe um einen zentralen Innenhof. Die weitläufigen, stützenfreien Großraumbüros erhielten somit von allen Seiten Licht und eine gute natürliche Belüftung. Das Gebäude wurde schon zu Beginn möglichst flexibel geplant. Einteilungen in kleinere Einheiten waren leicht durch verschiebbare Trennwände zu erreichen. Im hinteren Flügel befanden sich die Büroräume von Doxiadis Associates, im vorderen Flügel war das Athener Technologische Institut für Ekistik, im Verbindungsflügel verschiedene Service- und Besprechungsräume untergebracht. Ein Mini-Entopia mit zentralem Hof, als Ort der Versammlung und Geselligkeit, der weder privat noch öffentlich war. Ein Ort, an dem die Grenzen verwischten.
Doxiadis starb 1975. Büro und Institut wurden bald darauf geschlossen. Das Gebäude blieb über viele Jahre ungenutzt. Schließlich wurde das noch relativ junge Büro "Divercity Architects" damit beauftragt, die historisch aufgeladene Denkfabrik in eine Fünfsterne-Luxusresidenz umzugestalten. Inhaltlich keine leichte Aufgabe. Der bauliche Spielraum war hingegen groß. Doxiadis' offene Grundrisse beruhten auf allen Ebenen auf einem klaren Raster. Die Architekten wandelten die einzelnen Einheiten der Bestands-Matrix in verschiedene Wohnraummodule, die miteinander kombiniert, größere Wohneinheiten bilden. So entstanden sechsundzwanzig individuelle Wohnungen, die in Größe und Layout variieren: Studio- und Zweitwohnungen, Maisonetten und geräumige Penthäuser. Die größte entfaltet sich auf bescheidenen 700 Quadratmetern. Das Wohnprogramm wird durch weitere Premium-Ausstattungen ergänzt. Ein Wohnhaus mit Deluxe-Komfort. Natürlich erfolgte auch die Ausgestaltung der Innenräume mit besonders hochwertigen Materialien. Marmor, Holz und transluzenter Beton kontrastieren mit den alten Betonelementen des ursprünglichen Entwurfs wie den Rippendecken und Wendeltreppen. Erdgeschoss und Innenhof, so beschreiben es die Projektentwickler, sollen ganz im Sinne Doxiadis' Vorstellung einer Entopia als öffentlich zugängliche Zone verstanden werden. Etwas irritierend erscheint da allerdings, dass der Sicherheitsdienst schnell zur Stelle ist, sobald man diesen Hof betritt. Manche Griechen fragen bereits etwas spöttisch, ob so extravagantes Projekt überhaupt zu Athen passe. Einzigartig ist die Anlage auf jeden Fall.
Wir bedanken uns für die kenntnisreiche Unterstützung und Bereitstellung historischer Abbildungen durch die Constantinos A. Doxiadis Archives.
"One Athens"
Adresse: 20-24 Stratiotikou Syndesmou str., 10673 Athens, Griechenland
Lage (Google Earth)
Breite 37.980715°, Länge 23.740320°
Constantinos Apostolou Doxiadis
14.05.1914–28.06.1975, Architekt und Stadtplaner, studierte an der Technischen Universität Athen und promovierte 1935 an der Universität Charlottenburg (heute Technische Universität Berlin). Er arbeitete als Chef-Stadtplaner Athens und war maßgeblich für den Wiederaufbau der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich. Internationale Aufmerksamkeit erhielt er durch seine umfangreichen Studien zu menschlichen Besiedlungen (Ekistik) und den Masterplan der neuen pakistanischen Hauptstadt Islamabad.
Constantinos A. Doxiadis Archives
Das Archiv wurde 1996 mit dem Ziel der Erhaltung, der Erforschung und Verbreitung des Vermächtnisses von Constantinos A. Doxiadis gegründet.
Ekistik
Die Wissenschaft über die zukünftigen menschlichen Besiedlungen unter Berücksichtigung geografischer, ökologischer, psychologischer, anthropologischer, kultureller, politischer und ästhetischer Rahmenbedingungen. Das Institut für Ekistik an der Technischen Hochschule Athen wurde 1963 von Constantinos A. Doxiadis gegründet, nachdem er schon einige Jahre zuvor in diesem Bereich geforscht hatte. Die entwickelten Techniken wurden in einer Anzahl bestimmter Variablen unter Berücksichtigung von Zeit und Raum angewendet: Bevölkerung (Wachstumsraten, Dichte, Verbreitung), Ressourcen (Wasser, Energie, Nahrung, Bodenschätze), bewohnbares Land (Klima, Topographie, Trinkwasser) und Einkommen.
Divercity Architects
Wurde von Nikolas und Dimitris Travasaros gegründet. Das preisgekrönte Architekturbüro und Designstudio mit Zweigstellen in London (RIBA Chartered Practice) und Athen hat bereits ein breites Portfolio an Projekten. Es realisierte u. a. Hotels, Wohnungsbauten, gewerbliche und öffentliche Räume in Großbritannien, Europa und den USA.