ExRotaprint –  ExBerlin

Reportage:

Die vielen Leben eines Industrieareals als Vorbild für eine andere Möglichkeit der Stadtentwicklung..

ExBerlin

Beton — Deutschland | 

Architekten aus Berlin. "Anscheinend haben wir die Leute zufriedengestellt und waren auch friedliche Bürger, wie man an unserer langjährigen Zusammenarbeit sieht. Man kann sich mit Bauherren so schnell in die Haare kommen, das haben wir eben nicht getan", so Nather im Gespräch mit Daniela Brahm und Les Schliesser von ExRotaprint.

Klaus Kirsten und Heinz Nather

Architekten aus Berlin. "Anscheinend haben wir die Leute zufriedengestellt und waren auch friedliche Bürger, wie man an unserer langjährigen Zusammenarbeit sieht. Man kann sich mit Bauherren so schnell in die Haare kommen, das haben wir eben nicht getan", so Nather im Gespräch mit Daniela Brahm und Les Schliesser von ExRotaprint.

Bild vergrößern (Klaus Kirsten und Heinz Nather)(Abbildung © Hatje Cantz)

»Wir haben damals ein gemeinsames Büro gehabt und haben alles, egal wer es gezeichnet hat, unter dem Namen des Büros betrieben. Wir haben nicht nur zusammen gearbeitet, sondern auch viel unternommen, gefeiert, es war wirklich sehr schön. «

Heinz Nather im Gespräch mit Daniela Brahm und Les Schliesser.
"Sonderfall im Industriebau": Hermann Kreidt in "Die Baulichen Anlagen der Berliner Industrie seit 1895" über den markantesten Teil des Areals.

Der Eckturm

"Sonderfall im Industriebau": Hermann Kreidt in "Die Baulichen Anlagen der Berliner Industrie seit 1895" über den markantesten Teil des Areals.

Bild vergrößern (Der Eckturm)(Abbildung © Jan Dimog)
Frank Seehausen: "Hier wird deutlich, dass der Turm tatsächlich als bauliches Signet der Firma gedacht war."

Der Eckturm

Frank Seehausen: "Hier wird deutlich, dass der Turm tatsächlich als bauliches Signet der Firma gedacht war."

Bild vergrößern (Der Eckturm)(Abbildung © Jan Dimog)
Mit flachen Lichtkuppeln und einem klaren horizontalen Abschluss.

Ehemalige Montagehalle

Mit flachen Lichtkuppeln und einem klaren horizontalen Abschluss.

Bild vergrößern (Ehemalige Montagehalle)(Abbildung © Jan Dimog)
Kraftvolle Formen, kubistisch anmutende Skulptur.

Tischlerei- und Lehrwerkstättengebäude

Kraftvolle Formen, kubistisch anmutende Skulptur.

Bild vergrößern (Tischlerei- und Lehrwerkstättengebäude)(Abbildung © Jan Dimog)

Nächste Ausfahrt ExRotaprint-Tour

Heute ist es ruhig. Keine Lieferanten, wenig Verkehr, kaum Betrieb in den zahlreichen Räumen. Für Leben in diesem sonst sehr vitalen Ort sorgt die etwa 30-köpfige Menschengruppe, die sich an diesem Samstagnachmittag im Rahmen der Stadtteilführung "Nächste Ausfahrt Wedding" im ExRotaprint eingefunden hat. Die Künstler, Mitbegründer und Gesellschafter der ExRotaprint gGmbH Daniela Brahm und Les Schliesser haben zu der Tour eingeladen, die fast zwei Stunden dauern wird und von den Türmen bis in die Werkstätten ein Projekt zeigt, in dem viel Leidenschaft, noch mehr Ausdauer und viel Berlin steckt. Ein Berlin, in dem unbeirrbare Kiez-Enthusiasten ein dahinvegetierendes Areal zu neuem Leben erwecken. Ein Berlin, das sich zäh und widerstandsfähig gegen die milchgesichtsglatte Seite einer gentrifizierenden Gleichgültigkeitsarchitektur stemmen kann. Ein Berlin, das zu sich und seiner stolzen Beteiligungsseele findet und die Balance aus Modernität, Modernisierung und Erhalt schafft.
So vielfältig wie das Areal sind auch die Gäste der Führung: Architekten und Designer, Alleswisser und Dauerinteressierte, antipathische Schmierfrisurenträger und Doppelkinnige im robusten Kleidungsstil eines Kleingartenkolonisten. So eine Führung gleicht mitunter einer Schulklassengemeinschaft auf Zeit, zum Glück gibt es heute keine Klassenclowns.

Rotaprint druckt

Mannigfaltig sind auch die auf dem ExRotaprint-Gelände tätigen Firmen und Initiativen, eine Zusammensetzung, die exemplarisch für den ExRotaprint-Geist der engagierten Mixtur steht. Hier arbeiten Fotografen, Möbeldesigner, Anwälte, Siebdrucker, Neoprenanzug-Hersteller, Saz-Spieler und Tischler. Zum Mikrokosmos gehört auch die Mischung aus Mietern aus Kunst, Kultur, Gewerbe und dem sozialem Bereich. Sie alle sind hier an einem außergewöhnlichen Architekturort mit Bauten aus der Gründerzeit und den 1950ern, deren Geschichte eng mit der Firma Rotaprint verwoben ist. Das Unternehmen war Hersteller von Offsetdruckmaschinen und prägte über 90 Jahre den Standort zwischen Gottsched-, Bornemann-, Wiesen- und Reinickendorfer Straße im historischen Arbeiterbezirk Berlin-Wedding. Besonders bekannt war das Unternehmen für seine Kleinoffsetdruckmaschinen, die eine Produktion in kleinen Auflagen ermöglichte. In den Zwanzigern war Rotaprint weltberühmt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren 80 Prozent der Produktionsstätten zerstört. Um der wieder wachsenden Produktion gerecht werden zu können, wurden 1951 Flachbauten an der Gottschedstraße errichtet. Sie enthalten in ihrer Substanz noch Reste der Vorkriegsbebauung. Als wir bei der Führung im Eingangsbereich des Eckturms, dem markantesten Landmark des Ensembles, stehen, beschreibt es Daniela Brahm als "Puzzle" und "Archäologie". Denn aus dem ersten Leben kommen die eckigen Stützen und der schmale Sturz, das zweite Leben aus den 1950ern ist hier ebenso ersichtlich wie Zusätze der Nachwendezeit.

Grobian, Charakterkopf, Blickfang

1954 feierte Rotaprint 50jähriges Bestehen, bis zu 1000 Beschäftige waren hier tätig, 60 Prozent der Produktion gingen ins Ausland. Ab 1955 will das Unternehmen den gesamten Standort mit gestalterisch anspruchsvollen Neubauten aufwerten. "Umbau und Erweiterung der Fabrikationsbauten des Druckmaschinenherstellers Rotaprint gehören zu den eigenwilligsten Schöpfungen im Berliner Industrie- und Gewerbebau der Nachkriegszeit und nehmen im Werkskontext von Kirsten & Nather eine bedeutende Stellung ein", so Frank Seehausen im Buch "Kirsten & Nather - Wohn- und Fabrikationsgebäude zweier West-Berliner Architekten". Weiter heißt es: "Auch wenn Klaus Kirsten zunächst alleine für die Baumaßnahmen verantwortlich war, so lassen sich in diesem frühen und äußerst heterogen Werk des jungen Büros zahlreiche architektonische Themen finden, die später auch in anderen Bauten auftauchen." Neben dem "Technischen Büro", dem heutigen Projektraum, ist der scharfkantige, aus rechteckigen und trapezförmigen Volumen zusammengesetzte Eckturm mit auskragenden Glas-Beton-Kästen der auffälligste Blickfang des Ensembles. Er ist zugleich ein schroffer Grobian und ein eigenwilliger Charakterkopf, der mit Perspektiven, Offenheit und Geschlossenheit spielt. Das Pendent zu Büroflügel und Turm errichtete Kirsten 1958 mit dem Tischlerei- und Lehrwerkstättengebäude.
Bis weit in die 1960er ging es Rotaprint gut, Umsätze wurden vervielfacht, Preise eingeheimst. Neue Technologien setzten Rotaprint ab den 1970ern zu: Fotokopierer und kleine Drucker. Bis kurz vor dem Mauerfall war die Entwicklung der Firma durchwachsen. Zwischenzeitliche Hoffnungen auf einen Neubeginn – man fragte den britischen Architekten Richard Rogers für einen Neubauentwurf an – wurden nicht erfüllt. 1989 war Rotaprint mit 30 Millionen DM verschuldet und pleite. Das Inventar wurde versteigert, das Gelände fiel an den Bezirk, der die Verwaltung übernahm, die Zukunft der Gebäude blieb jedoch ungewiss. 1991 wurden Teile unter der Bezeichnung Rotaprint-Fabrik unter strengen Denkmalschutz gestellt. Ein Jahr später folgte der Abriss der Produktionshallen im südlichen Bereich zwischen Uferstraße und Reinickendorfer Straße, gefolgt von einer umfangreichen Sanierung des Bodens und der Grundwasserleitungen bis 1995. Kosten: 6,5 Millionen DM. Ab 2000 folgten häufige Verwalterwechsel und ein Instandsetzungsrückstau, dem der von Gewerbemietern gegründete Verein ExRotaprint e. V. entgegenwirken wollte. Wie daraus dann die ExRotaprint gGmbH wurde, welch enorme Ausdauer und Hartnäckigkeit die Beteiligten hatten, erklären Daniela Brahm und Les Schliesser en detail, faktenreich und sehr gründlich. Ich denke an enorm viele Aktenordner und noch mehr Diskussionen über Immobilienrecht, Liegenschaftsfonds und Bodenspekulationen. Welcher Künstler wird schon Gesellschafter und Mitbegründer einer gemeinnützigen GmbH?

Der erste architektonische Eingriff von Klaus Kirsten bei den Neubauten des Rotaprint-Geländes: das gläserne Zentrum der Firma. Die umlaufende rote Rahmung der Glaskiste entsprach der Farbgebung des Firmenlogos.

Der Projektraum

Der erste architektonische Eingriff von Klaus Kirsten bei den Neubauten des Rotaprint-Geländes: das gläserne Zentrum der Firma. Die umlaufende rote Rahmung der Glaskiste entsprach der Farbgebung des Firmenlogos.

Bild vergrößern (Der Projektraum)(Abbildung © Jan Dimog)
Daniela Brahm (li.) und Les Schliesser (Mi.) bei der Tour durch das ExRotaprint-Gelände

Erklärungen

Daniela Brahm (li.) und Les Schliesser (Mi.) bei der Tour durch das ExRotaprint-Gelände

Bild vergrößern (Erklärungen)(Abbildung © Hendrik Bohle)
Im Garten des Tischlerei- und Lehrwerkstättengebäudes

Grün

Im Garten des Tischlerei- und Lehrwerkstättengebäudes

Bild vergrößern (Grün)(Abbildung © Jan Dimog)
Fragile und in mehreren Schichten übereinander gestapelte, ausbalancierte Formen und Kuben.

Tischlerei- und Lehrwerkstättengebäude

Fragile und in mehreren Schichten übereinander gestapelte, ausbalancierte Formen und Kuben.

Bild vergrößern (Tischlerei- und Lehrwerkstättengebäude)(Abbildung © Hendrik Bohle)
Vom Lidl-Gelände aus gesehen: dreidimensionales Spiel mit Formen, Linien und Schichten.

Tischlerei- und Lehrwerkstättengebäude

Vom Lidl-Gelände aus gesehen: dreidimensionales Spiel mit Formen, Linien und Schichten.

Bild vergrößern (Tischlerei- und Lehrwerkstättengebäude)(Abbildung © Hendrik Bohle)

Ein Ex hilft

Mittlerweile sind wir im gläsernen "Projektraum" angekommen. In dem 1956 eröffneten Glaskasten war die Konstruktionsabteilung untergebracht, lichtdurchflutet von zwei Seiten. Zur einen Seite ist der große Innenhof mit Blick auf die anderen Gebäude, zur anderen herrscht Lidl-Pracht. 2005 wurde die südliche Brachfläche des Areals an Lidl verkauft, der hier 2007 ein Discountparadies baute. Auch das ist natürlich ein Thema für Brahm und Schliesser, die von ihrer intensiven Öffentlichkeitsarbeit und der politischen Lobbyarbeit ab 2005 erzählen. Von der massiven Entwertung des Baudenkmals. "Die banale Lidl-Vorstadtarchitektur verdrängt die hochwertige denkmalgeschützte Architektur Klaus Kirstens in die städtebauliche Isolation", heißt es in dazu in den "ExRotaprint Nachrichten", herausgegeben vom Planungsteam der ExRotaprint gGmbH mit Brahm, Schliesser, Bernhard Hummel und Oliver Clemens.
Wir sind in der zweiten Stunde der Tour und einige sind bereits ermattet, ob der Informationsfülle, zu erschöpften Teilnehmerklumpen auf den Klappsitzen im Glaskasten mutiert. Wie gesagt, das Ganze machen Brahm und Schliesser en detail, faktenreich, gründlich. So kann man sich vorstellen, dass ihre hartnäckige Ausdauer, ihre Mission in den Erfolg münden musste.
Kurze Zeit später stehen wir im obersten Stockwerk des Tischlerei- und Lehrwerkstättengebäudes und wundern uns über das Grün auf dem Discounterdach. Schliesser dazu: "Das haben wir damals durchgesetzt. Lidl hatte eine spitzgiebelige und mit roten Dachpfannen gedeckte Standardhalle geplant." Stattdessen musste Lidl ein Flachdach mit Begrünung bauen. Er sagt das ohne triumphierenden Unterton. Es ist eine "So nicht"-Feststellung, keine destruktive Einstellung, eher ein von Klarheit und Entschiedenheit getragenes Durchsetzungsvermögen. Beide haben in der nun fast zweistündigen Führung über das ExRotaprint als "Bottom-up-Projekt" gesprochen, als "einen offenen Ort mit einer Gruppe Gleichgesinnter". Als ein Gelände, das langfristig der Bodenspekulation entzogen bleiben und positiv in den Kiez wirken soll. Als ein Förderer von Kunst und Kultur. Das würde auch Klaus Kirsten gefallen – und Heinz Nather.

Ateliergebäude trifft auf Wohnhaus mit maximaler Offenheit, fließenden Raumbezügen und großzügiger Wohnlichkeit.

Haus Nather und Rebitzki von 1965, Berlin

Ateliergebäude trifft auf Wohnhaus mit maximaler Offenheit, fließenden Raumbezügen und großzügiger Wohnlichkeit.

Bild vergrößern (Haus Nather und Rebitzki von 1965, Berlin)(Abbildung © Martin Eberle, E+E Berlin. Über Hatje Cantz)
Ferienhaus, Limone am Lago di Garda, Italien: fein profilierte Kuben mit asymmetrisch über den See kragender Terrasse.

Haus Ziethen

Ferienhaus, Limone am Lago di Garda, Italien: fein profilierte Kuben mit asymmetrisch über den See kragender Terrasse.

Bild vergrößern (Haus Ziethen)(Abbildung © Hatje Cantz)
Das Cover mit Zitat

"Kirsten und Nather – Wohn- und Fabrikationsgebäude zweier West-Berliner Architekten"

Das Cover mit Zitat

Bild vergrößern ("Kirsten und Nather – Wohn- und Fabrikationsgebäude zweier West-Berliner Architekten")(Abbildung © Hatje Cantz)

"Alle Details bestens zu Ende gedachte Behausungsgedanken"

Maria und Josef Müller sind zufrieden. Seit einem Jahr wohnen sie in einem der Gartenhofhäuser im Asternweg, Köln-Seeberg. Sie entschließen sich, einen Brief zu schreiben. "An die Herren Klaus Kirsten und Heinz Nather. Dipl-Ingenieure –Architekten in Berlin-Wilmersdorf, Bundesallee 54."
"Wir, unsere Kinder sowie unsere Enkelkinder sind von Ihrem bis in alle Details bestens zu Ende gedachten Behausungsgedanken restlos und ebenso begeistert, wie alle unsere Freunde und Besucher, die größten Teil vom Fach sind. Ihrem Berliner Professor Herrn Dr. Gabler müssen wir somit Recht geben, wenn er sagt, daß er das Atriumhaus als eine sehr günstige Lösung beim Einfamilienhaus in Stadt- und Lärmnähe halte. Sie sollen wissen, daß im Wohngebiet 1,3 Seeberg am Asternweg Leute wohnen, die Ihre preisgekrönte Leistung bewußt und dankbar genießen, in Ehren und in Ordnung halten. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg, manche erste Preise, vor allem jedoch Gesundheit. Damit grüßen wir Sie freundlichst und mit vorzüglicher Hochachtung. Josef Müller. Maria Müller."
Der Brief ist im Buch "Kirsten & Nather - Wohn- und Fabrikationsgebäude zweier West-Berliner Architekten" abgedruckt. Neben einem Ausflug in die damalige Stilkunde des Briefeschreibens sind die 272 Seiten eine Zeitreise in die Berliner Architekturgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor allem ist es eine Würdigung des Architekturbüros von Klaus Kirsten (1929–1999) und Heinz Nather (geboren 1927). Deren Entwürfe mit dem unkonventionellen, offenen Blick, abseits der damals vorherrschenden gradlinigen Strenge hinterließen zwar zufriedene Bewohner und eindrückliche Industriearchitektur. Doch unter den bedeutenden Architekten der Berliner Nachkriegsmoderne werden Kirsten und Nather zu den formalen Außenseitern gezählt. Dabei sind ihre Einfamilienhäuser der 1950er- und 1960er-Jahre baukünstlerisch hervorragend und haben einen für hiesige Verhältnisse ungewohnt freien, fast südländischen Charakter. Dazu passt, dass sie sich Inspiration aus der italienischen, französischen und amerikanischen Nachkriegsarchitektur suchten, ohne die Strenge der klassischen Moderne zu verleugnen. Die Herausgeber und Autoren präsentieren in den Kapiteln "Die Wohnbauten" und "Die Fabrikationsgebäude" das Schaffen der beiden Architekten und ordnen es in den jeweiligen zeitgeschichtlichen, städtebaulichen und architektonischen Kontext ein. Das umfangreiche Archivmaterial von Heinz Nather und dessen Zitate zusammen mit den vielen Plänen und dem anschaulichen Bildmaterial machen Leben und Arbeit von Kirsten & Nather greifbar und sehr präsent. Den beiden kreativen Freigeistern schien dabei ihre Unabhängigkeit wichtig zu sein. "Sie gehörten keiner Architekturschule an, agierten immer zurückhaltend und abseits der Berliner Bauhierarchien, weshalb wohl auch nur wenige ihrer Bauten publiziert wurden", so die Autoren Alexander Hoff und Thomas Steigenberger. "Trotz ihrer zweifelsohne architekturhistorischen Bedeutung für das West-Berliner Baugeschehen der Nachkriegszeit hat ihr Werk bislang keine angemessene Würdigung und birgt deshalb noch manche Überraschung." Das im Hatje Cantz Verlag erschiene Buch ist daher wie eine nachträgliche Anerkennung dieses Nonkonformismus der ideenreichen und produktiven Alleingänger.

"So nicht-Einstellung" verpflichtet

ExRotaprint hat den Julius Berger-Preis für Stadtentwicklung 2016 gewonnen. In der Dankesrede zur Preisverleihung am 3. Juni im Palais am Funkturm, Berlin erklärten Daniela Brahm und Les Schliesser: "Betongold kann man auch im Wedding schürfen. Umso wichtiger ist es für die Gesellschaft, dass Politik aktiv für eine andere, offene Stadtentwicklung einsteht und Projekte fördert, die sich mit diversen und auch randständigen Gruppen auseinandersetzt, damit auch beim großen Preisausschreiben der künftigen Berliner Stadtentwicklung alle Gewinner sein werden."
Sie verwiesen auf das mit den Stiftungen trias und Edith Maryon abgeschlossene Erbbaurecht als wichtigen Baustein des ExRotaprint-Konzeptes. Und betonten, dass das Erbbaurecht ein Instrument sei, das auch die Stadt stärker nutzen könne, um Projekte langfristig abzusichern. Da ist es wieder. Der lange Atem. Die klare Unbeirrbarkeit. Die "So nicht"-Einstellung. Am Ende der Führung durch das Areal bin ich mir sicher, dass wir noch viel von den Initiatoren und Betreibern des ExRotaprint hören werden. Direkt oder indirekt. Weil es Nachahmer und Weiterentwickler gibt, die ebenfalls Kiez-Enthusiasten sind. Und ein Berlin mögen, das sich zäh und widerstandsfähig gegen die momentan so geschätzte faltenlose Rekonstruktionsmilde stemmt. Womit wir wieder bei den Macherinnen und Machern des ExRotaprint sind. Die stehen schließlich in der Tradition des Kirsten & Nather'schen Nonkonformen. Das verpflichtet.

»Der Wunsch, den Raum möglichst unbegrenzt ins Freie gehen zu lassen, das ist mir ein echtes Anliegen. Ich möchte nicht eingefangen sein.«

Heinz Nather, Architekt

Kirsten & Nather - Wohn- und Fabrikationsgebäude zweier West-Berliner Architekten

Hatje Cantz. Herausgegeben von Daniela Brahm, Les Schliesser / ExRotaprint, Texte von Frank Seehausen, Alexander Hoff, Gundula Lang, Elmar Kossel, Daniela Brahm, Les Schliesser, Thomas Steigenberger. Gestaltung von Daniela Brahm, Carsten Eisfeld. Deutsch, 2016. 272 Seiten, 245 Abb., 19,50 x 26,50 cm. Halbleinen. ISBN 978-3-7757-4068-5

Klaus Kirsten

1929–1999, geboren und gestorben in Berlin. Architekturstudium an der TU Berlin. Kirsten und Nather studierten bei Hans Scharoun und Willy Kreuer. 1950 wechselte Kirsten für zwei Semester an die TU Stuttgart, absolvierte 1954 ein dreimonatige Praktikum bei Giò Ponti in Mailand und schloss sein Studium an der TU Berlin ab. Im gleichen Jahr erhielt er den Fritz-Schumacher-Preis. Ein achtmonatiges Stipendium des italienischen Staates verbrachte er im Folgejahr in Rom. Beide Italienaufenthalte übten einen nachhaltigen Einfluss auf seine künstlerische Entwicklung und das Werk von Kirsten & Nather aus. Die Rotaprint-Fabrik (1955–1959) hat Kirsten noch alleine entworfen.

Heinz Nather

Geboren 1927 in Riga. Architekturstudium an der TU Berlin, Abschluss 1955. Zwei Jahre als freier Architekt und im Büro von Bruno Döring. 1957: Gründung der Arbeitsgemeinschaft mit dem ehemaligen Studienkollegen Klaus Kirsten. Das Büro Kirsten & Nather hatte schnell Erfolg mit Gewerbebauten und vor allem dem gehobenen Einfamilienhausbau. Auch außerhalb Berlins entstanden mehrere Wohnbauprojekte z. B. am Gardasee und die Reihenhaus-Wohnanlagen in Köln Chorweiler-Seeberg von 1962.

ExRotaprint gGmbH

Adresse: Gottschedstr. 4, 13357 Berlin

Das Baudenkmal

Teil der Identität von ExRotaprint ist die Architektur der Gebäude. Nach dem Konkurs der Firma Rotaprint 1989 gab es keine Perspektive für das Gelände. Es ist Landeskonservator Professor Engel zu verdanken, dass 1991 der "große Betriebshof" Gottschedstr. 4 / Bornemannstr. 9/10 und das Haus in der Wiesenstr. 29 unter strengen Denkmalschutz gestellt wurden. Die Produktionshallen zwischen Reinickendorfer- und Uferstraße wurden 1992 abgerissen. Der Denkmalstatus war umstritten. "Bunker jetzt Baudenkmal" titelte die BZ. Professor Engel formulierte es so: "Die gelungene architektonische Überformung einer aus der Gründerzeit stammenden Quartiersbebauung mit der Formensprache der Moderne ist eines der besten Architekturbeispiele der 50er Jahre in Berlin."

Die Übernahme

ExRotaprint e. V. ist 2005 als Initiative der Mieter gestartet. Auslöser für das Projekt: die jahrelange Vernachlässigung des Areals und die Ideen- und Perspektivlosigkeit für den Standort. Initiatoren: die Künstler Daniela Brahm, Les Schliesser und Anna Schuster. Ziel war der Kauf des Grundstücks. Die Mieter waren die eigentlichen Investoren an diesem Ort. Der Vorstand des Vereins führte die Kaufverhandlungen und war Ansprechpartner für Politik und Kultur. Der Kampf um den Erfolg einer Projektentwicklung "von unten" war zu Beginn völlig offen und nur mit Hartnäckigkeit, Offenheit für Beratung und politischer Unterstützung aus Bezirk und Land durchsetzbar. Nach erfolgreichen Verhandlungen wurde aus dem Verein die gemeinnützige GmbH ExRotaprint gegründet, die heute über Erbbaurecht Besitzerin der Gebäude ist und ExRotaprint entwickelt.

Rotaprint

Entwickelte und produzierte bis 1989 Offsetdruckmaschinen. Rotaprint war Synonym für die Vervielfältigung in kleinen Auflagen und erlangte Weltruhm mit der Erfindung der ersten Kleinoffsetdruckmaschine. Als wichtiger Arbeitgeber im Wedding prägte Rotaprint den Standort zwischen Gottsched-, Bornemann-, Ufer-, Wiesen- und Reinickendorfer Straße. 1904 als Deutsche Maschinenbau- und Vertriebsgesellschaft gegründet und 1925 in Rotaprint umbenannt, wuchs die Firma kontinuierlich und exportierte Druckmaschinen weltweit. Die Rotaprint-Maschinen waren unersetzliche Arbeitsmittel für Behörden und Unternehmen, aber auch für die linke Gegenöffentlichkeit der 1960er-Jahre. Ende der 1970er-Jahre beginnen neue elektronische Entwicklungen wie der Fotokopierer den Kleinoffsetdruck zu verdrängen. Rotaprint gerät in Schwierigkeiten, verschiedene Rettungsversuche können den Konkurs der Firma 1989 nicht verhindern.

Der gGmbH-Vertrag

Der Erhalt des Baudenkmals ist die erste Zielsetzung im Gesellschaftervertrag der ExRotaprint gGmbH. Der Überschuss aus den Mieten wird für die Sanierung der Gebäude eingesetzt. Allen Beteiligten ist klar, dass der Kaufpreis die geringere Investition in das Gelände sein wird. Die Sanierung wird über Jahre ein Vielfaches kosten. Als zweites Ziel ist die Förderung von Kunst und Kultur im Gesellschaftervertrag festgeschrieben. Das ermöglicht die Instandhaltung der Gebäude und inhaltliche Arbeit, um Mittel für Themen und Zusammenhänge freizumachen. ExRotaprint will sich zukünftig als ein Ort der Kunst und Kultur und den Diskurs zu Politik und Stadtentwicklung verstehen.

Das Erbbaurecht

Der von Initiatoren und Künstlern verhandelte Kaufpreis wurde nicht über einen Bankkredit finanziert. Die Lösung: eine Kooperation mit den Stiftungen trias und Edith Maryon. Die Stiftungen arbeiten an neuen Wegen im Umgang mit Grund und Boden und verhindern die Spekulation mit Grundstücken. Sie haben an Stelle der gemeinnützigen GmbH ExRotaprint das Gelände gekauft, um mit den Beteiligten einen 99-jährigen Erbbaurechtsvertrag abzuschließen. ExRotaprint zahlt einen jährlichen Erbbauzins an die Stiftungen trias und Edith-Maryon. Das Erbbaurecht setzt die ExRotaprint gGmbH für den gesamten Zeitraum in eine eigentumsgleiche Position. Die ExRotaprint gGmbH verantwortet die Finanzierung und Entwicklung des Geländes in allen Aspekten, einzig der Verkauf des Geländes ist nicht möglich. In dem Erbbaurechtsvertrag wurden unsere Ziele, die paritätische Vermietung an Arbeit, Kunst, Soziales, die sozial integrative Ausrichtung des Projektes, sowie dessen gemeinnütziger Status für die Projektentwicklung festgeschrieben. So ist ExRotaprint langfristig gesichert und unabhängig von den Akteuren der ersten Stunde.

Die Partner

Stiftung trias: Die Stiftung trias fördert Initiativen, die Fragestellungen des Umgangs mit Grund und Boden, ökologischen Verhaltensweisen und neue Formen des Wohnens aufnehmen. Ihre Stiftungsziele verwirklicht sie gemeinsam mit Kooperationspartnern im Rahmen gemeinnütziger Zielsetzungen. Stiftung Edith Maryon: Die Stiftung will zu Fragen im Umgang mit Grund und Boden und den darauf errichteten oder noch zu planenden Bauten als Partnerin zur Seite stehen. Dies gilt insbesondere für die Beratung bei sozialen Fragen, bei der Projektabwicklung, der Entwicklung alternativer Finanzierungsmodelle, der Vertragsgestaltung und der Erarbeitung von Selbstverwaltungsstrukturen. CoOpera Sammelstiftung PUK: Zur Finanzierung der Sanierung hat die ExRotaprint gGmbH einen Baukredit über 2,3 Mio. Euro bei dem Schweizer Pensionsfonds aufgenommen. Der Rentenfonds hat sich gegenüber seinen Anlegern verpflichtet, ihre Rentenzahlungen nicht an der Börse, sondern in nachhaltige, soziale, ökologische oder kulturelle Projekte anzulegen. Oberstes Ziel dieser Anlagepolitik sind wirtschaftlich und sozial verträgliche Lösungen, sowie Kontinuität und Sicherheit im Sinne einer vernünftigen Geldwert-Erhaltung.

Die Gesellschafter

Die ExRotaprint gGmbH hat 11 Gesellschafter: die bildenden Künstlerinnen und Künstler Martin Berghammer, Daniela Brahm, Sara Focke Levin, Les Schliesser, Anna Schuster. Die Architekten Johannes Dziadek, Georg Gewers und Christian Schöningh. Die Grafiker und Designer Stefan Haupt und André Reutter.

THE LINK Tipps

Kantine und Gästewohnungen

Kantine mit Frühstück, Mittagessen, Kaffee und Kuchen zu fairen Preisen. Keins der Gerichte kostet mehr als 6€. Frühstück von 8:30–11:00 Uhr, Mittagessen 12:00–15:30 Uhr. Übernachten im Baudenkmal: zwei Gästewohnungen mit je 42 qm können gemietet werden.

Nächste Ausfahrt Wedding e.V.

2007 haben Lothar Gröschel und Tanja Kapp Stadtführungen in den Wedding begonnen. Ursprünglich als einmalige Aktion gedacht, haben die Erkundungen im Brunnenviertel und Wedding, schnell viele Freunde gefunden. Ebenso schnell ist die Mannschaft gewachsen, die alle ehrenamtlich und nebenberuflich arbeiten. Schirmherr ist Dr. Christian Hanke, Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte. Die Wedding-Touren dauern zwischen anderthalb bis über 3 Stunden.