Musée des Confluences und Confluence-Viertel – Rendezvous mit 5.0
Es gibt Mittelalter-Dörfer, Barock-Orte und Städte, deren steinerne Gesichter erstarrt sind. Quasi Botox-Nester für die Ewigkeit. Unnatürlich lächelnde, dauerkonservierte Schönheiten. So eine Stadt könnte Lyon sein. Kopfsteinpflastergassen hier, Römerstätten dort. Wären da nicht Glas-Stahl-Bauten und Betonstatements der Siebzigerjahre und der von Renzo Piano entworfenen Cité International, die durch diese altehrwürdige Geschichte hindurchstoßen, nach dem Motto: Attention, s'il vous plaît, hier kommt die Gegenwart! Mumifizierte Nester? Nein, nicht hier. Dafür sind Verkehr und Menschenaufkommen zu metropolenhaft, zu urban, fast wie eine Bremse für eine allzu große Altstadt-Schmiegsamkeit. Das gilt umso mehr für das Confluence-Viertel.
Hier wird nicht gekuschelt, zumindest nicht architektonisch. Hier sind es Gesten und Einladungen, Bewegungen und Aufforderungen – mit der Geschichte zu brechen und in die Gegenwart zu eilen. Denn allzu lange war dieser Stadtteil ein anderes Lyon, ungeliebt, weit weg und doch Teil des inneren Zentrums. Dazu ein Blick auf die Stadt von oben und seine Geschichte: als Lucius Munatius Planeus 43 v. Chr. Lugdunum als Hauptstadt Galliens gründet, wächst es für lange Zeit am Fouvière Hügel im Westen der Stadt direkt an der Saône. Vieux-Lyon am Fuße der Erhebung ist heute das größte Renaissancegebiet Europas. Das Herz der Stadt ist auf der Halbinsel zwischen Saône und Rhône, hier ist der zentrale Platz Bellecour, hier kann man die feine Rue de la République entlangschreiten. Dieser Teil der Halbinsel und die Altstadt wurden 1998 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt.
Während sich die schicken und schönen Straßen und Viertel gen Croix-Rousse im Norden orientieren, ist Perrache, der südliche Teil der Insel, das genaue Gegenteil: Industrie- und Gewerbegebiet, verdrängt, vergessen, wild. Dabei ist diese Fläche fast so groß wie der distinguierte Welterbe-Teil im Norden, nur wenige Tram-Stationen entfernt und damit sehr zentral gelegen. Dann kam der Strukturwandel. Die Lagerhallen und Fabriken verschwanden. Sie gaben den Blick auf eine der größten innerstädtischen Brachen Europas frei. Mit der Unterzeichnung des Lyon Confluence Public Development Contract (CPA) begann die Phase 1 der Umgestaltung einer insgesamt 150 Hektar großen Fläche mit Ausgaben in Höhe von 1,16 Milliarden Euro. Die Stadtplanung verantwortete das Atelier Ruelle. Die zweite Phase planten die Schweizer Weltarchitekten Herzog & de Meuron (unter anderem entwarfen sie die Elbphilharmonie, die Allianz Arena in München, das Nationalstadion in Peking, den Umbau des Tate Modern in London) und der Landschaftsarchitekt Michel Devigne. Der 2012 gestartete Teil soll 2025 abgeschlossen sein. Schon heute leben auf 41 Hektar 10.000 Menschen, 14.000 Arbeitsplätze gibt es im Viertel Confluence. Damit wurde nicht nur das Ziel der Verdoppelung der Innenstadtfläche erreicht – es gelang auch dieses Retortenareal mit Leben zu füllen. Das ist den Planern und Verantwortlichen mit einem Konzept gelungen, das exemplarisch für Lyons Anspruch und Ansatz steht: Ganzheitlichkeit, Nachhaltigkeit und Sozialverträglichkeit. Die vernetzte, soziale und grüne Smart City: die Stadt 5.0. Fast ein Viertel der Wohnfläche sind Sozialwohnungen und Eigentum wird Menschen, die sich keinen Penthouse-Luxus leisten können (oder möchten), aber gerne hier leben wollen, ermöglicht. Schönen Gruß an andere Prestigeprojekte der Innenstadt-Neuentwicklungen. Dass man hier auf umweltfreundliches Bauen Wert gelegt hat, ist ebenfalls eine der Maßgaben gewesen. Abgerundet wird das Ganze mit ebenso anspruchsvoller Architektur, die die Planungsideen und die Confluence-Philosophie aufnimmt und nicht mit Pomp zu übertrumpfen versucht. Na gut, Showeinlagen gibt es natürlich schon, schließlich ist dies hier ein europäisches Vorzeigegroßprojekt. Ein wenig wie Expo zwischen der Saône und der Rhône auf einem ehemals vergessenen, verdrängten, wilden Ort. Fast scheint es, als ob der südliche Teil der Halbinsel in seiner Grün-Glas-Stahl-Beton-Verschönerung nicht nur die eigene Persönlichkeit verwandelt hat, sondern einen Sog entwickelt, der ganz Lyon ins Über-21. Jahrhundert katapultiert. Bis es soweit ist, schauen wir uns in einem foto-essayistischen Gang die Architekturen in Confluence an, selbstverständlich auch mit dem Gesicht der neuen Zeit: dem Musée des Confluences. Ein dekonstruktivistisches Wesen – massig, eckig, fremdartig. Wer braucht schon Botox, wenn das Gesicht so aussieht wie das von Lyon 5.0.
La Part-Dieu
Confluence
Musée des Confluences
Ein bißchen gif muss sein
Unsere Architekturreise wurde unterstützt von Auvergne-Rhône-Alpes Tourisme, Atout France und Only Lyon.
Musée des Confluences
86 quai Perrache, Lyon 2e. Öffnungszeiten DI.–FR. 11–19 Uhr, DO. bis 22 Uhr. SA., SO. und Feiertage 10–19 Uhr. Eintritt: 9€, ermässigt 6€. Für Gruppenreservierung: reservations@museedesconfluences.fr, Tel. +33 4 28381200
La Brasserie des Confluences
Level 0 – von Maison Pignol in Kooperation mit Chefkoch Guy Lassausaie. Öffnungszeiten DI.–SA. 12–14 Uhr und 19.30–21.30 Uhr. Für Reservierungen, Tel.: + 33 (0) 4 72 41 12 34
Café Sillon
Ambitionierte, junge Küche, die verschiedenste Geschmacksrichtungen zu kombinieren weiß. 46 Avenue Jean Jaurès, 69007 Lyon. Tel.: +33 (0)4 78 72 09 73. Metro Saxe-Gambetta. DI.–FR.: 12–14 und 20–22 Uhr, SA.: 20–22 Uhr, SO. und MO.: geschlossen.
Mama Shelter
Chrom, Klarheit und iMac-Minimalismus in den Zimmern, verspielte Farbigkeit und ungewöhnliches Interior im Restaurant und in der Lobby: bei Mama Shelter gelingt der Clash of Coolness. Wir haben einige Nächte in dem von Philippe Starck gestalteten Designhotel übernachtet und uns über Batman-Masken, gute Matratzen und ein ausgezeichnetes Frühstück gefreut. Adresse: 13 Rue Domer, 69007 Lyon. Tel.: 0033 (0) 4 78 02 58 00
Der Bilbao-Effekt
Der Begriff bezeichnet die gezielte Aufwertung von Orten durch spektakuläre Bauten von Architekten. Er geht auf die Entwicklung der nordspanischen Stadt Bilbao im Zusammenhang mit dem 1997 fertiggestellten Guggenheim Museum des US-amerikanischen Architekten Frank O. Gehry zurück. (Wikipedia)