Site Le Corbusier 3/3 – Le Meister und das Licht
L'église Saint-Pierre
Raumschiff, AKW-Turm, Schlot: Spitznamen bekam die Kirche bei der Fertigstellung und Eröffnung vor genau zehn Jahren zu Hauf. Dass es sie heute überhaupt gibt, ist einer Mischung aus Fügung, Zeitgeist und der Hartnäckigkeit seiner Befürworter zu verdanken, allen voran dem Bürgermeister Claudius-Petit, dem Architekten Oubrerie und der Le Corbusier-Stiftung. 42 Jahre sollte die Église-Irrfahrt bis zur Vollendung dauern. Dabei spielte sie in Le Corbusiers Stadtplanung für Firminy-Vert eine zentrale Rolle. Zusammen mit Louis Miquel und José Oubrerie hatte er die Kirche als vertikales Kernelement des Gesamtplans konzipiert. Nach Le Corbusiers Tod im August 1965 sollte es fünf Jahre dauern bis die Baumaßnahmen begannen. Nach Fertiggestellung des Erdgeschosses wurde der Bau 1974 gestoppt, 1976 fortgesetzt, um zwei Jahre erneut unterbrochen zu werden. Fortan rottete ein seltsamer Beton-Stumpen vor sich hin. Die Ruine wurde zusehends dunkler und erinnerte unfreiwillig an Firminys Vergangenheit als schmauchende Kohle-Eisenerzstätte.
Ein Vierteljahrhundert später war es wieder ein Bürgermeister, der etwas bewegen sollte. Im Sommer 2001 entschied Firminys Bürgermeister Dino Cinieri alle relevanten Akteure zusammenzurufen. Die Ruine stieg in den Rang eines regionalen Prestigeprojektes auf, nachdem zuvor ein Problem geschickt umgangen worden war. Denn eine öffentliche Finanzierung verträgt sich nicht mit Frankreichs laizistischen Grundsätzen. Seit 1905 verbietet ein Gesetz staatliche Gelder für religiöse Neubauten. Daraufhin wird die Église schnell zum "architektonischen Erbe" und von einer Kult- zu einer Kulturstätte deklariert. 2006 war es dann soweit: nach dreijähriger Bauzeit und unter der Aufsicht von José Oubrerie wurde die dritte Kirche von Le Corbusier eingeweiht. Die beiden anderen Sakralbauten des Atheisten Le Corbusier stehen in La Tourette und Ronchamps.
Nachdem wir mit der Site Le Corbusier-Repräsentantin Maelle Braquet zunächst das Maison de la Culture und die Unité d’Habition besucht haben, kommt nun die Zeit des Lichts. Am späten Vormittag stehen wir vor dem Sichtbeton-Konus.
Abgerundete Kanten.
Ein Zylinder und ein Quadrat ragen hervor.
Ein Bogen über dem Eingang, schief wirkende Regenrinnen.
Eine Rampe beschreibt theatralisch einen Halbbogen und führt zur Kuppel.
Der Eingang befindet sich im Erdgeschoss, wo auch das Museum untergebracht ist. Dort müssten wir normalerweise hin. Heute aber macht Maelle Braquet eine Ausnahme. Wir sollen die Rampe nehmen und uns beeilen. Sie öffnet die Le Corbusier-typische Drehtür und das Spiel kann beginnen. Das skulpturale Äußere von Saint Pierre weicht im Inneren einer Fusion aus Formen und Farben, aus Licht und Lauten. Das Raumgefühl scheint wie aufgehoben, unsere Schritte, unser Flüstern gleiten an den Wänden hinauf und hinab und in die Höhen. Was für eine Sphäre, was für eine elementare Raumwucht!
Unten bestimmen Kanzel, Kapelle und Altar die Kuppel. Hinter dem Altar fällt Licht durch drei Dutzend Minifenster, deren Metallprofile wellenförmige Reflektionen auf die Wände werfen. Die Zylinder aus massivem Plexiglas fügen sich zum Sternbild des Orion. So wie das Weltall ist das Innere eisig. Die roten und grünen, die blauen und gelben Lichtbänder, das durch die Öffnungen dringende Leuchten, die gekippten Betonwände – José Oubreries Interpretation der gemeinsam mit Le Corbusier erstellten Ideen passt zu dessen Ausspruch:
"In diesem unendlichen Raum kann jeder die nötige Stille finden, wenn man es so will, um die Tiefen seiner Seele auszuloten und um seine Geheimnisse freizusetzen."
Das wiederum ist ein anderer Le Corbusier als in einigen Stellen seines "Städtebau" und während des Vichy-Regimes. Hier wird er durch Oubrerie ein Lichtraum-Poet und ein sanfter Betonkopf, der in seinem späteren Leben vom rechten Winkel ließ und elegische Rundungen zulassen konnte. Mit Lichtkanonen.
Unsere Architekturreise wurde unterstützt von Auvergne-Rhône-Alpes Tourisme und Atout France.
Firminy
Eine Gemeinde und Industriestadt mit etwas über 17.000 Einwohnern (Stand: Januar 2013) bei Saint-Étienne im Département Loire in der Region Auvergne-Rhône-Alpes. Die Stadt liegt am Fluss Ondaine, einem kleinen Nebenfluss der Loire. Bekannt geworden ist der Stadtteil Firminy-Vert (das grüne Firminy) durch die städtebauliche Planung von Le Corbusier und anderen Architekten. Initiator war der Politiker und Firminy-Bürgermeister Eugène Claudius Petit, der das Projekt Anfang der 1950er vorantrieb. Mehrere Bauten von Le Corbusier und dem Architektenteam sind Bestandteil des Retortenstadtteils: das als Jugend- und Kulturzentrum konzipierte und heutige Maison de la Culture, das Stadion, die Unité d’Habitation und die vom Architekten José Oubrerie vollendete Kirche Saint Pierre. Die Stadtplanung (1964–1969) ist die einzige von Le Corbusier in Europa. Zudem hat Firminy den größten Bestand an Le Corbusier-Bauten in Europa.
Site Le Corbusier
Adresse : Rue St-Just Malmont – 42700 Firminy. Täglich 10–12:30 Uhr, 13:30–18:00 Uhr. information@sitelecorbusier.com, Tel: 0033 (0)4 77 61 08 72
Le Corbusier
Geboren 6.10.1887 in La Chaux-de-Fonds; gestorben 27.8.1965 in Roquebrune-Cap-Martin. Ein schweizerisch-französischer Architekt, Architekturtheoretiker, Stadtplaner, Maler, Zeichner, Bildhauer und Möbeldesigner. Charles-Édouard Jeanneret-Gris lernte Graveur bevor er unter Peter Behrens in Berlin und Auguste Perret in Paris Architektur studierte. Sein Pseudonym Le Corbusier nahm er in Anlehnung an den Namen seiner Urgroßmutter Lecorbésier und von corbeau (dt.: Rabe) erstmals in der Zeitschrift L’Esprit nouveau 1920 an, das er gemeinsam mit dem Maler Amédée Ozenfant und dem Publizisten Paul Dermée betrieb. 1922 gründete Le Corbusier mit seinem Vetter Pierre Jeanneret (1896–1967) ein Architekturbüro. Ab 1922 begründete er seinen Ruf mit dem Bau moderner, puristischer Villen für die wohlhabende Avantgarde in Paris. 1933 war er federführend an der Verabschiedung der Charta von Athen auf dem IV. CIAM-Kongress in Athen beteiligt (Congrès International d’Architecture Moderne (Internationaler Kongresse für neues Bauen). Am 3. Juli 1941, nur zwei Tage nachdem sich Marschall Pétain in Vichy installierte, zog Le Corbusier dorthin um und knüpfte Kontakte zur Pétain-Regierung, von der er auch Aufträge erhielt und ausführte. Le Corbusier ließ in den späten 1930er-Jahren Sympathien für die politische Rechte erkennen, was dazu führte, dass sich Mitarbeiter von ihm distanzierten. Inzwischen ist nachgewiesen, dass er mit der Vichy-Regierung, Hitler und den Faschisten sympathisierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg pflegte er einen düster-romantischen Architekturstil und arbeitete oft mit Sichtbeton. Eine Auswahl seiner wichtigen Bauten: Grundkonzept und Pläne für das UNO-Hochhaus (New York); die Planung der neuen indischen Hauptstadt Chandigarh (Fertigstellung mehrere Regierungsgebäude und des Parlaments 1961); die erste Unité d’Habitation in Marseille (1952); die wegen ihrer Formensprache berühmte Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut de Ronchamp (1955); das Kloster Sainte-Marie de la Tourette (1960).
José Oubrerie
Geboren 1932. Französischer Architekt, Autor und Dozent. Studium der Malerei an der École des Beux-Arts (1946–51) in Nantes und der Architektur an der École Nationale Supérieure des Beaux-Arts (ENSBA), (1955-58 und 1966-68) in Paris. Er hat mit Le Corbusier an der Église Saint-Pierre gearbeitet, nach dessen Tod mit Unterbrechungen von 1960–78 und von 2003–2006, als die Kirche unter Oubreries Leitung offiziell fertiggestellt und eingeweiht wurde. Für das Centre Le Corbusier (Fertigstellung 1967) in Zürich, Schweiz hat er ebenfalls mit Le Corbusier gearbeitet. In den USA setzte Oubrerie seine Karriere unter anderem an den Universitäten Ohio State University und University of Illinois of Chicago als Architekturprofessor fort.
Charta von Athen CIAM
Die Charta von Athen wurde auf dem IV. Kongress des Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM, Internationaler Kongress für neues Bauen) 1933 in Athen verabschiedet. Unter Leitung von Le Corbusier entwickelt, stand die Charta als Ergebnis des Kongresses für die Entflechtung städtischer Funktionen und für die Schaffung von lebenswerten Wohn- und Arbeitsbereichen. Die Charta wurde nach dem Zweiten Weltkrieg wichtig und stand für das Bauen der Moderne. Sie beeinflusste den Städtebau von der Nachkriegszeit bis heute, oft auch fehlinterpretiert. Einige der in der Charta festgelegten Forderungen: Die Stadt als funktionelle Einheit unterliegt den städtebaulichen Hauptfunktionen Wohnen, Arbeiten, Erholen und Bewegen – Die Wohnung muss das Zentrum aller städtebaulichen Bestrebungen sein. – Der Arbeitsplatz muss von der Wohnung minimal entfernt sein. – Der Verkehr hat eine der Verbindung der städtischen Schlüsselfunktionen dienende Aufgabe. – Die idealen Städte sollten folgende Zonierung aufweisen: Innenstadt: Verwaltung, Handel, Banken, Einkaufen, Kultur – Gürtel rund um die Innenstadt: Voneinander getrennt: Industrie, Gewerbe, Wohnen – Peripherie: In Grüngürtel eingebettete Satellitenstädte mit reiner Wohnfunktion.
Team 10
Die Charta galt über Jahrzehnte als Ideal für den Städtebau. Ab den 1970ern wurde sie zunehmend kritisiert. So forderten Vertreter eines kontextuellen Bauens die Erneuerung und Weiterentwicklung der historischen Stadt. Team 10 (auch als Team X oder Team Ten bekannt) war eine von 1953–1981 bestehende Gruppe von Architekten, die aus dem Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM) hervorging und in Opposition zu den Idealen der Charta und der klassischen Moderne stand. Wichtige Mitglieder waren Peter und Alison Smithson (England), Georges Candilis und Shadrach Woods (USA), Jacob Bakema und Aldo van Eyck (Niederlande), Giancarlo De Carlo (Italien), Stefan Wewerka (Deutschland). Sie kritisierten die Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr in den Idealen der Charta von Athen. Die Team 10-Mitglieder experimentierten mit neuen, flexiblen Raumsystemen und Stadterweiterungsprojekten. Die Bezeichnung Team 10 geht auf die Organisation des zehnten und letzten CIAM-Kongresses zurück. Dort hatte der griechisch-französische Architekt Georges Candilis von ihm mitgeplante Gebäude in Casablanca vorgestellt und die Mitglieder durch die Verbindung aus Moderne und lokalen, kulturellen und klimatischen Gegebenheiten beeindruckt. In Deutschland hat Candilis das Hauptgebäude der geistes- und sozialwissenschaftlichen Institute der Freien Universität Berlin entworfen – wegen seiner in Cortenstahl ausgeführten, rostbraunen Fassade auch als Rostlaube bekannt.