Firminy. Frankreich. Charles-Edouard Jeanneret alias Le Corbusier war der Überarchitekt, Großmeister und Baubeeinflusser des 20. Jahrhunderts. Nirgends in Europa gibt es mehr Bauten von ihm als in Firminy, einer Kleinstadt bei Lyon. Unsere dortige Exkursion nehmen wir zum Anlass ihn in drei Geschichten kennenzulernen: 1. Seine komplexe, teils auch widersprüchliche Gedankenwelt, die er in zahlreichen Büchern veröffentlicht hat. 2. Die Unité d’Habitation und Maison de la Culture und 3. Die vor zehn Jahren vollendete L'église Saint-Pierre in Firminy. In Teil 2 besuchen wir die Wohnmaschine und das Kulturzentrum.
"Es ist nicht alles auf Rosen gebettet. Manchmal muss man warten, bis man alt und grau ist, wenn alles zusammenkommt ... Sonne, offene Flächen, Grün, das ist das, was wir heute haben. Das kann man in der Eintönigkeit der Tage vergessen."
Eugène Claudius-Petit, Bürgermeister von Firminy bei der Grundsteinlegung der Unité d’Habitation am 21.5.1965, wenige Monate vor dem Tod von Le Corbusier.
Eugène Claudius-Petit dachte groß. Anders als sein Nachname vermutete, war sein Vorhaben alles andere als "petit", klein. Der Bürgermeister hatte 1953 eine städtebauliche Großvision mit der passenden, griffigen Marke entwickelt: "Firminy-Vert", das grüne Firminy. Sein Programm zur Erweiterung und Modernisierung der bestehenden Stadt basierte auf Grundlage der Charta von Athen, die auf dem Internationalen Kongress für neues Bauen (Congrès International d’Architecture Moderne CIAM) 1933 in Athen verabschiedet worden war. Als Wegbereiter des Manifests wurde Le Corbusier nach einem Konzept für die Stadtplanung des Claudius-Petit-Projektes gefragt. Dieser war nicht nur überzeugter Anhänger der Moderne, sondern ein echter Le Corbusier-Enthusiast. Sein Auftrag an diesen: Erschaffen Sie das perfekte Beispiel einer Stadt des 20. Jahrhunderts! Daraufhin stellte Le Corbusier ein Architektenteam aus Spezialisten zusammen und stand dieser Gruppe vor: Charles Delfante, Jean Kling, Marcel Roux und André Sive. Gebaut wurden der lange Riegel der Maison de la Culture und der Sockel für die jetzt steil aufragende Kirche. Beide umfassen Schwimmbad und Stadion von entgegengesetzten Seiten. Zwar in Sichtweite aber doch in einiger Entfernung entstand die Unité d’Habitation mit 414 Wohnungen. Le Corbusier erlebte nur das Kulturzentrum als fertiges Projekt, alle anderen wurden erst nach seinem Tod 1965 zu Ende gebaut. Bei der Kirche war die Diözese als Auftraggeber abgesprungen. Ihr missfielen Standort und Entwurf. 1995 wurde die Bauruine unter Denkmalschutz gestellt. Erst Anfang der 2000er erhielt der ehemalige Mitarbeiter von Le Corbusier, José Oubrerie, den Auftrag zur Fertigstellung der Kirche. Die Geschichte der L'église Saint-Pierre ist auch mit Firminys jüngster Entwicklung verbunden. Die Kleinstadt am Zentralmassiv wuchs erst spät in Richtung der umliegenden Erhebungen. Seit den 1960ern sind mehrere Großwohnhäuser entstanden, die wie Blöcke und Kästen aufragen. Firminy war seit jeher eine Kohle- und Industriestadt, ähnlich wie die Nachbargemeinde Saint-Étienne. Doch als die zwei wichtigsten Einnahmequellen, Kohleabbau und Eisenerz, versiegten, stieg in der Folge des Strukturwandels die Arbeitslosigkeit an. Die Stadt schrumpfte von 24.000 Einwohnern auf 19.000 zu Beginn der 1980er-Jahre. Lange spielte das Corbusier-Erbe keine Rolle in den Konzepten der Umstrukturierung. Dass es hier den größten Bestand an Corbusier-Projekten nach den Regierungsbauten im indischen Chandigarh gab, hatten die Verantwortlichen vernachlässigt. Ein wichtiger Schritt war die Verbindung Firminys mit Saint Étienne zu einem Städteverbund. Die Restrukturierungsmaßnahmen gewannen an Geschwindigkeit. Kunst und Kultur, Design und Architektur sollten in der Region fortan ein größeres Gewicht erhalten. Nachdem der Verbund die Ruine erworben und José Oubrerie sich an die Fertigstellung gemacht hatte, sollte es mehrere Jahre dauern, bis Le Corbusiers letztes Werk Ende 2006 vollendet wurde. Das allerdings hatte es in sich. Dazu später mehr. Denn an diesem Herbsttag erwarten uns zunächst das Maison de la Culture und die Unité d’Habitation, bevor es zur Mittagszeit zur Kirche geht. Diese Reihenfolge wird uns von den Angestellten und Führern des Site Le Corbusier im Maison de la Culture empfohlen. Denn wer am Vormittag um 10 Uhr kommt, kann in zwei Stunden Maison und Unité erkunden, um die Mittagszeit für die Kirche zu reservieren. Warum wir das nach unserem Besuch ebenfalls empfehlen? Siehe Teil 3, das wir für die L'église Saint-Pierre reservieren.
"Goethe sagte, die Architektur sei 'versteinerte Musik'. Vom Gesichtspunkt des Musikkomponisten aus könnte man diese Feststellung umdrehen und sagen: 'die Musik ist bewegte Architektur'. Theoretisch sind vielleicht beide Aussprüche schön und richtig, erfassen aber nicht ganz die intimen Zusammenhänge der beiden Künste."
Iannis Xenakis, Komponist und Architekt
Maison de la Culture
Das Gebäude hat viele Gesichter. Vom Stadion aus gesehen, scheint es aus dem Gestein zu wachsen, von der Parkplatzseite wirkt die Betonhaut mit den schmalen, vertikalen Fensterschlitzen wie eine Fassaden-Ziehharmonika. An dieser Seite befindet sich der Eingang, der seine Eigenständigkeit mit einer Rampe und als an das Gebäude angedockter Block, zelebriert. Das einzige Le Corbusier-Gebäude seiner Art in Europa beherbergt einen Konzert-und Theatersaal, Bibliothek, Arbeitsräume und Büros. Der Stadtrat beauftragte Le Corbusier und sein Team im September 1955 mit der Planung und dem Bau eines Sport- und Kunstzentrums. Das Resultat sind das Maison de la Culture und ein Stadion, das nicht nur die verschiedenen Bereiche und Disziplinen vereinte, sondern auch Firminy-Vert mit der Stadt verbinden sollte. Das Kulturhaus ist 112 Meter lang, 14 Meter breit und zwischen 2,5 Meter bis 12,80 Meter hoch. Im Inneren wird aus der Fassaden-Ziehharmonika ein Lichtspiel. Le Corbusier schreibt dazu in "Modulor 2" über die "musikalischen Glaswände": "Die Glashaut der Außenwände, die Flure und Gemeinschaftsräume erhellt, ist unabhängig vom tragenden Gefüge. Diese Haut aus Glas wird von feinen Rippen aus Eisenbeton gestrafft. Ohne die Hilfe des Modulors boten sich zwei traditionelle Lösungen für die Verteilung der Eisenbetonrippen an. Die erste, banalste, besteht in einer Anordnung der Rippen in gleichen Abständen. Die zweite, geschicktere, besteht darin rhythmische Motive zu schaffen, indem man die Rippen in verschiedenen Abständen nach einer arithmetischen Progression verteilt." Zuständig für die Vereinigung von Musik und Architektur war der Architekt, Ingenieur und Komponist Iannis Xenakis, der als Assistent zwölf Jahre für Le Corbusier arbeitete. Das Mobiliar, z. B. die Beistellstühle, wurde extra für das Kulturhaus angefertigt, gestaltet vom Architekten und Innengestalter Pierre Guariche (1926–1995).
Das Stadium wurde nach dem Tod von Le Corbusier 1965 von seinen Kollegen André Wogenscky und Fernand Gardien 1968 fertiggestellt. Die Haupttribüne korrespondiert mit dem Kulturzentrum, das mit dem Stadion über eine Promenade verbunden ist. Insgesamt fasst das Stadion 4180 Plätze, davon 3780 Sitzplätze, wovon wiederum 500 von einem über 15 Meter langen Stahlbetondach bedeckt sind.
Wenn man auf dem Parkplatz steht, ist die Hochhauswand massiv und licht zugleich. Ich muss an die xenakische Musikarchitektur denken. Hier sind es keine arithmetischen Progressionen oder rhythmische Anordnungen der Glaswände. Hier ist es der Wechsel aus roten und weißen Loggien-Decken. Für Le Corbusier war die Farbgebung eines Gebäudes ebenso wichtig wie Grundriss und Form. Bereits in den 1920ern experimentierte er mit Farben und der architektonischen Wirkung. Basis seiner Farbpalette waren bewährte Künstlerpigmente, aus denen er seine Farbtöne ableitete. Als Vorbild für seinen Farbeneinsatz diente ihm die Natur. Blau schuf Weite, Rot festigte sich in der Fläche, Grau brachte Ruhe, Weiß machte sichtbar. Die Idee der Wohnmaschine stellte Le Corbusier bereits 1925 vor als er seinen Entwurf als Ideallösung für eine massenhafte Verbreitung vorstellte. Durch standardisierte Serienproduktion wollte er ein hohes Maß an Wirtschaftlichkeit erreichen. Die Unités d’Habitation sind in ihrer Effizienz und Massenproduktion Vorläufer der Plattenbauten. In sein Leitbild der "vertikalen Stadt" integrierte er verschiedene Einrichtungen des täglichen Bedarfs. Die erste Unité wurde 1952 in Marseille eröffnet. Der Skelettbau aus Stahlbeton hat 18 Geschosse. Anstelle des Erdgeschosses befindet sich ein Freigeschoss mit Stützen, die das Gebäude tragen. In Firminy kommen zu den 414 Wohnungen eine Vorschule und ein Kinderspielplatz auf dem Dach hinzu. Beide sind inzwischen geschlossen und können nur in einer geführten Besichtigung erkundet werden. Die Appartements sind als Maisonettewohnung konzipiert: in einem Geschoss die ganze Stockwerksbreite einnehmend, im anderen die Hälfte mit Anschluss an den Erschließungsrundgang. Bei unserem Rundgang geht es zusammen mit der Site Le Corbusier-Repräsentantin Maelle Braquet zunächst auf das Dach. Die Aussicht reicht über das nahe Firminy-Vert bis über die Hügel der Außenbereiche der Stadt. Während die Beton-Ästhetik des Dachs kühl, klar und kantig ist, überrascht das Geschoss darunter mit Licht und Leichtigkeit. Buntgläser und Paneele in alternierender Anordnung sind eine Hymne an das Licht. Die Erklärung von Maelle Braquet zur Nüchternheit des Dachs: der Spielplatz wurde nach Schließung der Schule abgebaut. Ursprünglich ging es hier ähnlich bunt zu wie im Schulstockwerk.
"Nötig ist es, durch Konstruktion eines Theoriegebäudes von äußerster Strenge durchzudringen zur Formulierung der Grundprinzipien für den modernen Städtebau."