Van Nelle-Fabrik – Das Lichtwerk
Auf Reisen / Reportage:Dieses Licht. Diese Weite. Diese Präsenz der Außenwelt im Innenraum. Der Lohn für eine kleine Irrradfahrt durch den Rotterdamer Vorort Spangen, wo von sieben angesprochenen Leuten keiner wusste, wo die Van Nelle-Fabrik ist. Warum ich nicht das Smartphone als Orientierungshilfe benutzt habe? Regen und Technik sind manchmal keine gute Kombination. Dass die Angesprochenen keine Ahnung von der Lage der berühmten Fabrik hatten, liegt an der selbigen. Auf der einen Seite quietscht die Eisenbahn, auf der anderen schippert es auf der Delfshavense Schie gen Maas und Schnellstraßen umfassen die dritte Flanke. Gewerbegebiet bleibt Gewerbegebiet. Über 90 Jahre nach Fertigstellung der Anlage spielt sie keine Rolle im städtischem Alltagsleben. Darauf verweist auch die Urban Guides-Führerin, die unsere sechsköpfige Gruppe in den nächsten anderthalb Stunden durch die Produktionsstätte, das Direktorenhaus und das Gelände leiten wird. Marketing war ein weiterer wichtiger Faktor. Denn wer auf dem Schienen-, Straßen- und Wasserweg unterwegs war, kam an diesem Gebäude und vor allem den riesigen Lettern nicht vorbei. Versalien künden von Lautstärke und Selbst- und Sendebewusstsein: Hier ist VAN NELLE.
Der Bau selbst ist hohe Ingenieurskunst. Es wurden viele tausend über zwanzig Meter lange Stahlbetonsäulen gegossen und mit der aus den USA eingeführten Thomson-Dampframme in den Untergrund getrieben. Das sicherte das Fundament in dem schlammigen Untergrund. Das Skelett der Fabrik bilden die Pilzstützen aus Stahlbeton. Diese wurden mit dem Boden vergossen und bilden so eine belastbare Einheit, so dass auf die Träger für die Decken verzichtet werden konnte. Zuvor waren die Verantwortlichen nach Detroit und in andere amerikanische Hochleistungsstädte gereist, um Struktur, Bauart und Architektur der damals hochmodernen Werke zu studieren. Viele ihrer Rechercheresultate fanden sich in der Fabrik wieder. Z. B. der direkte Zugang der Direktoren von der Garage im Verwaltungsgebäude zu den Büroräumen. Das wichtigste Markenzeichen jedoch wurde das amerikanische Daylight Factory-Prinzip. Das Licht flutet auf beiden Seiten des siebenstöckigen Baus durch die Vorhangfassaden in die Stockwerke. Da ist es wieder: Das Licht. Die Weite. Die Präsenz der Außenwelt im Innenraum.
Im Gebäude sind alle Funktionen ablesbar. Die Treppenhäuser sind mit Chrom und Keramik gestaltet und leiteten die Angestellten nach Geschlechtern getrennt von den Eingängen zu den Nassräumen und weiter zu den Stockwerken. Waschen war für die Arbeiter*innen Pflicht und Hygiene hatte Priorität. Für viele ungewohnt, da es damals in den meisten Häusern und Wohnungen keine Bäder gab. Die Toiletten und Duschen wurden aus den USA importiert und strahlen noch heute eine filigrane und nüchterne Feinheit aus. Die Form folgt der Funktion. Das zeigt sich auch an der Logistik des Baus. Die durchdachten und ästhetisch anspruchsvollen Lösungen dienten der Effizienz und Wirtschaftlichkeit des Baus. Bis zu 1.700 Angestellte waren in der Fabrik beschäftigt. Gerade im Vergleich mit dem Standard in den Manufakturen vor dem Ersten Weltkrieg war die Van Nelle-Kombination aus Tageslicht, heller Architektur und Materialauswahl ein großer Sprung. Die betont schlichte Glas-Beton-Stahl-Sachlichkeit machte den Chefarchitekten Leendert van der Vlugt zu einem niederländischen Pionier des Neuen Bauens, der mit dem Auftraggeber einen kongenialen Partner hatte. Die Eigentümer hatten den Jungunternehmer Kees van der Leeuw mit der Realisierung der Fabrik autorisiert. Dem schwebte mit dem Bau ein Gesamtkunstwerk vor. Er interessierte sich für die neuen Produktionsmethoden in den USA, für moderne Architektur und die Malerei. So fügten van der Leeuw und van der Vlugt die Rationalität der industriellen Fertigung mit der neuen Architektursprache zu einem Areal der Effizienz und Klarheit, des Lichts und der Weite zusammen.
Unsere redaktionell unabhängige Recherchereise wurde von Rotterdam Partners unterstützt.
Van Nelle Fabriek
Adresse: Van Nelleweg 1, 3044 BC Rotterdam. Die Firma Van Nelle wurde 1782 als ein Geschäft für Kaffee, Tee und Tabak gegründet. Der Familienbetrieb entwickelte sich erfolgreich zu einem Fabrikgewerbe. Mit der Expansion der Firma wurde das Architekturbüro Brinkman & Van der Vlugt beauftragt, einen neuen Firmensitz im Industriegebiet Spaanse Polder zu schaffen. Für den Entwurf war Leendert van der Vlugt verantwortlich. Von 1931–1990 war der Kontor und die Produktionsstätte Sitz der Firma. Bei ihrer Fertigstellung war sie einer der innovativsten und modernsten Fabrikkomplexe und ein Musterbeispiel der architektonischen Moderne und Vorbote des internationalen Stils. Gekennzeichnet wurde der Entwurf durch seine transparenten und filigranen Fassaden aus Spiegelglas sowie ihre pilzförmigen Betonsäulen. Ebenso spielten Licht, Luft und Raum im Entwurf eine wichtige Rolle. Seit 1986 steht sie als Rijksmonument unter Denkmalschutz. Seit dem 21. Juni 2014 ist das Areal ein UNESCO-Weltkulturerbe. Zuvor wurde der Komplex sechs Jahre renoviert. Heute ist die Van Nelle-Fabrik Bürogebäude und Veranstaltungsort. Ein gelungenes Beispiel für eine zeitgemäße, lebendige Weiternutzung eines UNESCO-Weltkulturerbes.
Leendert van der Vlugt
1894–1936, geboren und verstorben in Rotterdam. Van der Vlugt war niederländischer Architekt und Vertreter des "Nieuwe Bouwen" (Neues Bauen). Im Architekturbüro Brinkman & Van der Vlugt war er der verantwortliche Architekt für die Van Nelle-Fabrik. Vlugt wird als "Vlücht" ausgesprochen. Der vom Konstruktivismus beeinflusste Architekt hat neben der Van Nelle-Fabrik folgende Bauten entworfen: Gewerbeschule (Groningen, 1922), Haus van der Leeuw (Rotterdam, 1929), Haus Sonneveld (Rotterdam, 1934), Wohngebäude Bergpolder (Rotterdam, 1935), Stadion Feijenoord (Rotterdam, 1936).
THE LINK-Tipp
Wir empfehlen den Besuch mit einer Führung durch UrbanGuides zu verbinden. Die Fachleute mit Expertise in Architektur, Stadtplanung und Stadtgeschichte bringen einem die jeweiligen Orte und Bauten Rotterdams auf eine kenntnisreiche Weise nah. Eine einstündige Tour durch das Van Nelle-Areal kostet 16 Euro, inklusive des Zugangs zur Ausstellung "Nieuwe Bouwen" im 7. Stock des Produktionsgebäudes.