Finding Brutalism von Simon Phipps –  Rohbau

Buchwelten:

Finding Brutalism von Simon Phipps - In das Innere des Brutalismus fotografiert .

Rohbau

Beton — Schweiz | 

Das erste Bild ist eine finstergraue Ansage. Es zeigt einen Gang, Brüstungen, einen Treppenabsatz in Wyndham Court in Southhampton am Ärmelkanal. Der Boden ist abgenutzt, ein Graffito ausgewaschen und ein Riss zieht sich quer über die Decke. Was ist mit diesem Gang geschehen? Was hat dich bloß so ruiniert? Wirst du deswegen abgerissen? Simon Phipps, Fotograf der britischen Nachkriegsmoderne, ist ein Präzisionsarbeiter, der Bauten, Ausschnitte und Details scharf und fokussiert ablichtet. Das Körnige und Kontrastreiche macht viele Fotografien erdiger, schwerer, teilweise noch düsterer als es die Betonbauten ohnehin schon sind. Dann wieder tauchen utopische Leichtigkeit und vielfältige Betonkunst auf: Klotzhäuser auf Stelzen, wabenartige Deckenlinien und schaufelartige Auskragungen. Je länger man sich die Bilder ansieht, desto belebter und vielschichtiger wirken die Betonismen. Sie strahlen Stolz und Würde aus, sind abweisend, recken sich dem Betrachter selbstbewusst entgegen und erscheinen beinah wie gebaute Wesen. Die Vielfalt der Formen ist erstaunlich. Sie erzählen von längst vergangenen Kämpfen und von Visionen, die die Architekten und Planer damals getrieben haben. Mit den Bildern verknüpft sich auch die Frage nach der Zukunft. Können utopistische Bauwerke nicht genauso abgerissen werden wie belanglose Nullarchitektur?
Phipps hat fast 160 Bauten in England portraitiert und deckt in seiner Bestandsaufnahme der britischen Nachkriegsarchitektur die ganze Palette kommunaler Bauten ab, von Bibliotheken und Schulen zu Amtsgebäuden und Gemeindeeinrichtungen. Besonders beschäftigt ihn der soziale Wohnungsbau. Menschen jedoch sieht man nirgends auf seinen Bildern. Doch das hat weniger mit künstlerischer Inszenierung als mit Porträtkunst zu tun. Er umkreist die Gebäude, die er fotografieren will, bis sich der Blickwinkel als „richtig anfühlt“ oder vor seinem geistigen Auge sinnvoll scheint.
Was er ebenfalls thematisiert, ist die Materialität. Viele Gebäude haben mehrere Jahrzehnte britische Witterung und menschliche Verschlimmbesserungen hinter sich und was das heißt, ist eindrücklich. Narben und Kratzer, Flecken und Löcher zeigen, dass die Bauten sichtlich gealtert sind. Und altern sollten. Brutalistische Architektur wird auch als hässlich empfunden, weil sie diese Spuren wie Errungenschaften präsentieren. Sie verleugnen ihre Herkunft nicht und die mit ihr verbundenen Ideale der gebauten Utopie und grenzensprengenden Betonbaukunst schimmern nach wie vor durch all die Wundmale und Entstellungen durch. Der Kontrast zum heutigen Bauen mit Aluminium und Glas, mit Rostfreiheit und Glanz ist auch deshalb so stark, weil die zeitgenössische Ewig jung-Architektur dort endet, wo sie begonnen hat. Hier soll nichts altern, hier soll alles züchtig bleiben. Auch deshalb hat der Brutalismus wenig von seiner Kompromisslosigkeit und Radikalität verloren. Die fotografische Phipps-Bestandsaufnahme ist somit auch ein Spiegel der heutigen Harmlosigkeit. Vielleicht ist auch deshalb die brutalistische Architektur bedroht. Wer nach all den Jahrzehnten es immer noch wagt, so ungeniert zu sein, sollte Platz für das Gefällige machen, so der Tenor der Kritik. Wer Kokon mag, kann sich da gerne hineinkuscheln, verbunden mit dem Warnruf: Vorsicht, Erstickungsgefahr!

1966, Architekt: Sheppard Robson

Brunel University, Howell Centre

1966, Architekt: Sheppard Robson

Bild vergrößern (Brunel University, Howell Centre)(Abbildung © Simon Phipps, Courtesy Museum im Bellpark)
1965-1967, Architekt: Ernő Goldfinger

Balfron Tower, Brownfield Estate, London

1965-1967, Architekt: Ernő Goldfinger

Bild vergrößern (Balfron Tower, Brownfield Estate, London)(Abbildung © Simon Phipps, Courtesy Museum im Bellpark)
1962-1967 Architekt: LCC Architects’ Department

Aintree Estate

1962-1967 Architekt: LCC Architects’ Department

Bild vergrößern (Aintree Estate)(Abbildung © Simon Phipps, Courtesy Museum im Bellpark)
1972–1976, Architekt: Renton Howard Wood Levin Partnership for GLC

Earlstoke Estate, London

1972–1976, Architekt: Renton Howard Wood Levin Partnership for GLC

Bild vergrößern (Earlstoke Estate, London)(Abbildung © Simon Phipps, Courtesy Museum im Bellpark)
1968, Architekt: Norman Engleback, Dennis Crompton, Warren Chalk and Ron Herron for the LCC

Hayward Gallery, South Bank, London

1968, Architekt: Norman Engleback, Dennis Crompton, Warren Chalk and Ron Herron for the LCC

Bild vergrößern (Hayward Gallery, South Bank, London)(Abbildung © Simon Phipps, Courtesy Museum im Bellpark)
1960-1963, Architekt: Rodney Gordon for the Owen Luder Partnership

Eros House, Catford, London

1960-1963, Architekt: Rodney Gordon for the Owen Luder Partnership

Bild vergrößern (Eros House, Catford, London)(Abbildung © Simon Phipps, Courtesy Museum im Bellpark)
1967, Architekt: Sheppard Robson

The Chapel at Churchill College, Cambridge

1967, Architekt: Sheppard Robson

Bild vergrößern (The Chapel at Churchill College, Cambridge)(Abbildung © Simon Phipps, Courtesy Museum im Bellpark)
1970–76, Architekt: Denys Lasdun

Institute of Education, London

1970–76, Architekt: Denys Lasdun

Bild vergrößern (Institute of Education, London)(Abbildung © Simon Phipps, Courtesy Museum im Bellpark)
1967-76, Architekt: Denys Lasdun

National Theatre, South Bank, London

1967-76, Architekt: Denys Lasdun

Bild vergrößern (National Theatre, South Bank, London)(Abbildung © Simon Phipps, Courtesy Museum im Bellpark)
1962–68, Architekt: Denys Lasdun

University of East Anglia, Library, Norwich

1962–68, Architekt: Denys Lasdun

Bild vergrößern (University of East Anglia, Library, Norwich)(Abbildung © Simon Phipps, Courtesy Museum im Bellpark)
1962-1968, Architekt: Denys Lasdun

University of Anglia Norwich

1962-1968, Architekt: Denys Lasdun

Bild vergrößern (University of Anglia Norwich)(Abbildung © Simon Phipps, Courtesy Museum im Bellpark)
1969, Architekt: Victor Pasmore

Apollo Pavillion, Peterlee

1969, Architekt: Victor Pasmore

Bild vergrößern (Apollo Pavillion, Peterlee)(Abbildung © Simon Phipps, Courtesy Museum im Bellpark)
1968-1972, Architekt: Francis Pym

Ulster Museum, Belfast

1968-1972, Architekt: Francis Pym

Bild vergrößern (Ulster Museum, Belfast)(Abbildung © Simon Phipps, Courtesy Museum im Bellpark)
Herausgegeben von Hilar Stadler und Andreas Hertach. Fotografien von Simon Phipps. Erschienen bei Park Books und zur gleichnamigen Ausstellung im Museum im Bellpark, Kriens vom 29. August bis 29. Oktober 2017.

Finding Brutalism

Herausgegeben von Hilar Stadler und Andreas Hertach. Fotografien von Simon Phipps. Erschienen bei Park Books und zur gleichnamigen Ausstellung im Museum im Bellpark, Kriens vom 29. August bis 29. Oktober 2017.

Bild vergrößern (Finding Brutalism)(Abbildung © Simon Phipps)

»Seine Schwarz-Weiss-Ästhetik unterstreicht die Zeitlosigkeit der brutalistischen Architektur, betont ihre massige Präsenz und dramatische Gewichtigkeit. Sein Spiel mit Licht und Schatten arbeitet die eindrucksvolle Schönheit der Oberflächen und Formen heraus – und schafft einen bedeutungsvollen Kontrast zu den leichten, in seinen Worten 'Plastikkindereien, die den aktuellen banalen und mittelmässigen Siedlungsbau bestimmen.' Er verwendet eine stark reduzierte Ästhetik, für eine stark reduzierte Architektur.«

Catherine Ince, Kuratorin am Victoria und Albert Museum, Jurorin des Schweizer Designpreises vom Bundesamt für Kultur und mitverantwortlich für den britischen Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig.

Finding Brutalism

Herausgegeben von Hilar Stadler und Andreas Hertach. Fotografien von Simon Phipps. Mit Texten von Catherine Ince und Owen Hatherley sowie einem Gespräch zwischen Kate Macintosh und Stephen Parnell. 1. Auflage, 2017. Gebunden: 258 Seiten, 10 farbige, 192 Duplex- und 28 sw Abbildungen, 20 x 25.5 cm. ISBN 978-3-03860-064-0

Simon Phipps

Geboren 1963 in Milton Keynes, wo seine Eltern als Architekten am Bau der neuen Siedlung beteiligt waren. Er hat Bildhauerei am Royal College of Art studiert. Der bekannte Fotograf modernistischer Nachkriegsarchitektur hat 2016 das Buch „Brutal London“ veröffentlicht. Er lebt und arbeitet in London.

Brutalismus

ist ein Architekturstil der Moderne. Der Ursprung der Bezeichnung liegt unter anderem im französischen Begriff béton brut (‚roher Beton‘), der auf ein wesentliches Definitionsmerkmal des Stils verweist, nämlich die Materialsichtigkeit des Baus. Der Begriff wurde 1953 von der britischen Architektin Alison Smithson geprägt und durch Reyner Banham im Dezember 1955 mit einem Aufsatz in der Architectural Review lanciert. Er verweist dabei auch auf den durch Le Corbusier gesetzten Begriff béton brut, wörtlich ‚roher Beton‘, dem französischen Ausdruck für Sichtbeton. Trotz der Betonung des Betons erlaubt der Stil auch andere Materialien wie Metall, Ziegel oder Stein. Für den Brutalismus hält Banham in seinem Aufsatz drei essentielle Kriterien fest: 1. formale Lesbarkeit des Grundrisses; 2. Klare 3. Zurschaustellung der Konstruktion; 4. Wertschätzung der Materialien „as found“ (als gegebene). Als erster brutalistischer Bau gilt die Schule in Hunstanton von Alison und Peter Smithson (1949–1954), auch Bauten von Le Corbusier, vor allem das Kloster Sainte-Marie de la Tourette bei Éveux-sur-l’Arbresle und die Unité d’Habitations in Marseille, Firminy, Berlin und Nantes waren für den Brutalismus richtungsweisend. Der Brutalismus setzte sich in den 1960er-Jahren durch und blieb präsent bis in die 1980er Jahre. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts hat eine Phase der Wiederentdeckung begonnen, insbesondere angesichts von Abrissen oder entstellender Umbauten.