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Route der Industriekultur 1/3 – Mit Schmackes in die Zukunft
Auf Reisen / Reportage: Auf unserer Tour durch einen Teil der Route der Industriekultur waren wir auf SciFi-Halden, in Edelzechen und Hightech-Museen. Die Landmarken, Umbauten und Parks sind das Ergebnis von weitsichtigen Planungen, mutiger (Bau)Politik, fantasievollen Entwürfen, dem langen Atem der Beteiligten und dem Willen der Menschen zu Veränderungen. Kaum zu glauben, dass das hier noch vor wenigen Jahrzehnten ein Wrack-Winkel der Republik war. Düster standen hier die Überbleibsel der einst so stolzen Montanindustrie. Wer die alten Gasometer, Fördertürme und Hochöfen in der Metropole Ruhr zum ersten Mal besucht, trifft natürlich auf stolze Malocherstories und Episches aus dem Bergbau. Selbstverständlich war der Strukturwandel nicht innerhalb weniger Jahre vollzogen, sondern dauerte Jahrzehnte und brachte Massenarbeitslosigkeit, Verödung und Verarmung.
Doch die Zeugen der 150-jährigen industriellen Vergangenheit des Ruhrpotts stehen heute saniert und verändert da. Und imponieren. Zum Glück sind die alten Produktionsstätten keine keimfrei-musealen Industriedenkmäler, sondern wurden in ihren Funktionen umgedeutet, angepasst und verändert. Vielleicht gibt es auch deswegen keine Wehmut, zumindest nicht für mich wahrnehmbar. Denn der tiefgreifende Umbruch ist keineswegs abgeschlossen, auch können Probleme der Region nicht mit Sanierungen und Umbaumaßnahmen wegpoliert werden. Trotzdem haben Meilensteine wie z. B. die „Internationale Bauausstellung Emscher Park“ von 1989–1999, die Kulturhauptstadt Ruhr.2010 und die REGIONALEN wichtige Impulse für die Neudefinition nicht nur der alten Industrieanlagen, sondern auch für die Identität einer ganzen Region gesorgt.
Statt Wrackistan nun also Ruhr reloaded. Die Montanindustrie ist tot, es lebe der Mountainpark. Die neuen, alten Anlagen haben sich zu lebendigen Kulturräumen entwickelt, zu denen die Fitten und Flotten sommers wie winters hinradeln, die kunsthistorisch Beflissenen hinpilgern, die Familien hineilen. Weil sie großartige Ausblicke auf diese 5,2 Millionen zählende Stadtlandschaft bieten, weil sie das industriekulturelle Erbe eindrücklich veranschaulichen und weil sie Natur, Kultur und Stadt zusammenführen. Wo früher geschuftet wurde und die Erde eine Kraterlandschaft war, stehen futuristische Giganten-Installationen, werden Konzerte veranstaltet und rollern Wochenend-Sportler gegen ihre Büropfunde an. Bei unserer Tour durch einen Teil der insgesamt 400 km langen Route der Industriekultur mit seinen 25 Höhepunkten („Ankerpunkte“) und den 17 Panoramen haben wir uns auch von architektonisch, baukulturellen Besonderheiten leiten lassen. Manchmal jedoch hatten wir einfach nur Lust auf diese Pott-Mischung aus Denkmalidylle, Bergbaureminiszenz und modellierter Stadtlandschaft. Diese Revier-Mixtur schafft es, einen zeitgleich in Kultursphären zu bringen und mit Planet Ruhr zu erden, das Rauschen der nächsten, vielbefahrenen Straße ist garantiert nicht weit. Es ist dieser Sound der Route, seine kraftvollen Installationsfantasien, die Verweise auf die ruhm- und entbehrungsreiche Geschichte und das Ringen und Bemühen um Identität, die diese Region tatsächlich zu einem SciFi-Park machen. Oder wie man hier sagen würde: Hömma, es geht mit Schmackes gen Zukunft!
Star-Zeche und Kulturkosmos
Diese Welterbestätte ist ein Superlativ. Die größte erhaltene Zeche des Ruhrgebiets vereint bergbauliche Arbeits-, Produktions- und Lebenswelten wie keine andere. Das ehemalige Bergwerk Zollverein im Essener Norden erstreckt sich über mehrere Stadtteile. Von der Gründung 1848 bis zur Stilllegung 1986 war es eines der größten, technisch modernsten und architektonisch aufwendigsten Zechen des Reviers. Zollverein ist das Symbol des Ruhrbergbaus schlechthin und ein gebautes Dokument der deutschen Industrie- und Bergbaugeschichte, maßgeblich von Ingenieuren und Architekten geprägt.
Heute besteht das Areal aus 5 Schachtanlagen mit 12 Schächten. Schacht 12 wurde von 1928–1932 gebaut, um die Kohle der anderen 4 Schachtanlagen zentral aufzubereiten. Als Vertreter des Neuen Bauens basierte die Idee der Architekten Fritz Schupp (1896–1974) und Martin Kremmer (1894–1945) auf einem funktionalen Entwurf, der Platz für Flexibilität ließ. Trotz der Komplexität an die Anforderungen eines Großzechenbetriebes, der Ausdehnung des Areals und der massiven Größe der Gebäude ist auch heute noch die symmetrische Anordnung der Bauten mit klaren Blickachsen deutlich wahrnehmbar. Insgesamt 20 Gebäude bildeten die Abläufe der Kohleförderung nach dem Bauhaus-Prinzip „form follows function“ ab: ornamentfrei, sachlich und bis ins Detail durchdacht. Schupp und Kremmer gelten als die bedeutendsten deutschen Architekten von Bergwerksanlagen des 20. Jahrhundert. Schupp plante insgesamt 69 Industrieanlagen.
2001 wurde das Areal als „Industriekomplex Zeche Zollverein“ in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen. Die Umnutzung des Komplexes zeigt die Rolle des Ruhrgebiets als Vorreiter. Und auch das zweite Leben von Zollverein wird durch Architekten und Ingenieure geprägt. Wichtige Umbauten sind der Kesselhaus (1996) nach Plänen von Sir Norman Foster und des Essener Büros Heinrich Böll und Hans Krabel. Das Ergebnis ist eine Industrie-Architektur, die Glas, Beton, Stahltreppen, Altes und Neues zusammenführt.
Von 1999–2000 baute der Frankfurter Architekt Christoph Mäckler die zweigeschossige Waschkaue zum Choreographischen Zentrum NRW (heute PACT Zollverein). Das Ziel: Sanierung, Umbau und Rekonstruktion mit minimalen Eingriffen, um die originale Substanz zu erhalten.
2001 präsentierte der Rotterdamer Architekt Rem Koolhaas mit seinem Office for Metropolitan Architecture (OMA) das Konzept für den weiteren Ausbau des Gesamtareals. Kern des Masterplans ist die Entwicklung hin zu einem Design- und Kulturstandort mit neuen Wegen und Erweiterungen, die die Bestandsbauten in ihrer Wirkung belassen. Hinzu kamen Neudefinitionen von Funktionen.
2006 wurde der Umbau der Kohlenwäsche nach dem Entwurf von OMA (mit Böll und Krabel) fertiggestellt. Augenfälligstes Merkmal ist die langgestreckte Gangway mit der Rolltreppe mit dem die Besucher direkt zum Eingang des Ruhr Museum auf 24 Meter Höhe gelangen. Die Kohlenwäsche ist das größte Gebäude auf Zollverein und 90 Meter lang, 30 Meter breit und 40 Meter hoch. Der Umbau dieses komplexen Übertagegebäudes erforderte Kompromisse. Die Maschinerie im oberen Teil blieb weitgehend erhalten und die Fassade wurde um einige Zentimeter nach außen versetzt.
Beim Stichwort „Komplexität“ sind wir bei unserem Rat angelangt: da diese Star-Zeche Kleinstadt, Kulturkosmos und ein Park der Baukünste ist, sollten Sie sich nicht zu viel für Ihren Besuch vornehmen, erst recht wenn Sie zum ersten Mal kommen. Das Gelände ist über 100 Hektar groß. Allein das Ruhr Museum, Schaufenster und Gedächtnis der Metropole Ruhr, zeigt in der Dauerausstellung 6.000 Exponate zur Natur- und Kulturgeschichte des Ruhrgebiets. Neben Zeit für die umfangreiche Sammlung zur Industrie- und Sozialgeschichte – mit einer angenehm zurückhaltenden und zugleich eigenständigen Gestaltung durch hg merz Architekten – sollte man Muße für die Innenarchitektur mitbringen und sich am rotorange illuminierten Treppenhaus im Rohkohlenbunker erfreuen. Ebenfalls Teil der riesenhaften Kohlenwäsche ist das Portal der Industriekultur, wo der Panoramafilm „RUHR 360°“ gezeigt wird, mehr filmästhetische Erfahrung, denn Faktenshow, dafür sinnlich und authentisch. Am besten konzentrieren Sie sich auf zwei, drei Punkte und Gebäude und kommen wieder. Um zum Beispiel drei weitere Bauten zu besichtigen: den 34 Meter hohen Betonwürfel der Pritzker-Preisträger von SANAA (Fertigstellung 2006) mit den verspielt wirkenden und wie zufällig angeordneten 134 Fensteröffnungen; das Ende Oktober 2017 eröffnete Quartier Nord von MGF Architekten und Wenzel + Wenzel Freie Architekten mit der hermetischen Stahl-Glas-Fassade und wer als Traditionalist grundsätzlich keine Neubauten (oder lieber Rekonstruktivismus) mag, sollte zur Kokerei Zollverein, die einst größte und modernste ihrer Art bei der Eröffnung 1961. Doch Vorsicht, auch hier gibt es Neuerungen: das Werksschwimmbad ist seit 2001 Teil des Kunstprojekts „Zeitgenössische Kunst und Kritik“ der Frankfurter Künstler Dirk Paschke und Daniel Milohnic und beliebtes Bade-Ziel während der Sommerferien in NRW. Spaß muss sein. Auch im Superlativ.
Zeche Zollverein
Ein von 1851 bis 1986 aktives Steinkohlebergwerk, heute ein Architektur- und Industriedenkmal. Gemeinsam mit der unmittelbar benachbarten Kokerei Zollverein gehören die Schachtanlagen 12 und 1/2/8 der Zeche seit 2001 zum Welterbe der UNESCO. Zollverein ist Ankerpunkt der Europäischen Route der Industriekultur und Standort verschiedener Kultureinrichtungen sowie der Folkwang Universität der Künste. Bis zu 8000 Kumpel haben täglich auf der Anlage gearbeitet, die bis zur Schließung 1986 über 240 Millionen Tonnen Kohle gefördert haben. Jährlich kommen 1,5 Millionen Menschen zu dieser Ikone der Montanarchitektur mit seinen Restaurants, Cafés, Museen, Ateliers, Werkstätten und der Industrienatur. Das Gelände ist jederzeit frei zugänglich. Adresse: Gelsenkirchener Straße 181, 45309 Essen. Öffnungszeiten: 6-24 Uhr, Eintritt: frei.
Ruhr Museum
Vormals Ruhrlandmuseum. Das natur- und kulturhistorische Museum versteht sich als das Gedächtnis und Schaufenster des Ruhrgebiets. Es dokumentiert in seiner Dauerausstellung Natur, Kultur und Geschichte des Ruhrgebiets und damit die Entwicklung eines der größten Ballungsräume Europas. Die Dauerausstellung in der Kohlenwäsche wurde vom Büro hg merz gestaltet und ist in vier Ebenen gegliedert. Auf der 24-Meter-Ebene, zu der man mit der großen Außenrolltreppe gelangt, befinden sich Kasse und Information, ein Café, sowie der Museumsshop. Auf der 17-Meter-Ebene werden Mythen, Phänomene und Strukturen des gegenwärtigen Ruhrgebiets dargestellt. Die 12-Meter-Ebene stellt das vorindustrielle Gedächtnis der Region dar und zeigt auch die Sammlungen des Museums zu Archäologie, Ethnologie und Naturkunde. Auf der 6-Meter-Ebene wird die Geschichte des Ruhrgebiets im Industriellen Zeitalter dargestellt. Das Museum verbindet sein umfangreiches Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm mit dem Denkmalpfad ZOLLVEREIN®, der Route der Industriekultur und dem Portal der Industriekultur in der Kohlenwäsche. Seit seiner Eröffnung am 9. Januar 2010 gemeinsam mit der Kulturhauptstadt RUHR.2010 hat sich Haus zu einem Publikumsmagneten entwickelt. Über 400.000 Besucher sahen im ersten Jahr die Dauerausstellung und die Wechselausstellungen des Museums. Adresse: Zollverein A 14 (Schacht XII, Kohlenwäsche), Gelsenkirchener Straße 181, 45309 Essen. Tel.: +49 (0)201 24681444, E-Mail: info@ruhrmuseum.de. Öffnungszeiten: Di.–So.: 11–18 Uhr, montags geschlossen.
Red Dot Design Museum
Das ehemalige Kesselhaus von Fritz Schupp und Martin Kremer wurde 1929 fertiggestellt und war die Energiezentrale von Zeche Zollverein. Mit etwa 2.000 Exponaten bildet die Präsentation die gesamte Bandbreite aktuellen Produktdesigns ab. Mitte der 1990er-Jahre baute der britische Architekt Norman Foster das Haus zum Red Dot Design Museum mit Alt-Neu-Kontrasten und der Mischung aus Industriearchitektur und Produktkultur um. Adresse: Gelsenkirchener Straße 181, 45309 Essen. Tel.: +49 (0)201 3010425, E-Mail: museum(at)red-dot.de. Öffnungszeiten: Di.–So. 11–18 Uhr.
Route der Industriekultur
Die industrielle Vergangenheit des Ruhrgebiets reicht bis tief ins 19. Jahrhundert. In den vergangenen 150 Jahren hat das Revier gewaltige Umbrüche erlebt, die vom Wirtschaftsaufschwung über große Zuwanderung bis hin zu Krisen und tiefgreifendem Strukturwandel reicht. Noch heute prägen die architektonischen Zeugen jener Ära das Revier. Die Gasometer, Halden und Fördertürme stehen heute vielfach unter Denkmalschutz und wurden zu Orten für Kunst, Kultur, Freizeit und Tourismus entwickelt. Das regionale Tourismusprojekt „Route der Industriekultur“ ist ein ca. 400 Kilometer langer Rundkurs durchs Ruhrgebiet mit dem Fokus auf das industriekulturelle Erbe der Region. Zum Kernnetz gehören 25 Ankerpunkte mit sechs Museen sowie Panoramen der Industrielandschaft und bedeutende Siedlungen. Projektträger ist der Regionalverband Ruhr (RVR). Das zentrale Besucherzentrum der Route ist auf dem Areal des UNESCO-Welterbes Zollverein in Essen.
Neues Bauen
Entstand in den 1920er-Jahren als architektonische Richtung der Neuen Sachlichkeit und wurde durch neue Bautechniken wie Eisenbau und Stahlbetonbau geprägt. Die Konstruktion rückte in den Vordergrund, auf dekorative Elemente wurde verzichtet. Der amerikanische Architekt Louis Henry Sullivan postulierte 1890 mit „form follows function“ einen Satz, der zur Grundlage des Neuen Bauens werden sollte. In Europa nutzte Auguste Perret als einer der ersten Architekten die Vorteile der Eisen-Beton-Bauweise im regulären Wohnungsbau. Auch in Deutschland erkannten Architekten die Möglichkeiten, die die neuen Techniken mit sich brachten und entwickelten daraus das Neue Bauen, das sich ab 1907 im Deutschen Werkbund entwickelte und die ideelle Grundlage der Bauhaus-Schule bildete. Fast ein halbes Jahrhundert gestaltete es das europäische Bauen wesentlich mit. Die im Werkbund organisierten Architekten beabsichtigten, dem Maschinenzeitalter entsprechend funktionsgerecht zu Bauen, ohne historisierende Rücksichten nehmen zu müssen und unter Einsatz moderner Materialien. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es in Deutschland zu großen politischen Umwälzungen mit weitreichenden Auswirkungen. Die drängenden sozialen Probleme und das Bedürfnis, massenhaft Wohnraum zur Verfügung stellen zu müssen, veranlasste die Kreativen die funktionalen und gestalterischen Anforderungen mit den sozialen Problemen zu verknüpfen – intensiv zwischen Bruno Taut, Walter Gropius und Hans Scharoun diskutiert. Das Neue Bauen setzte konsequent auf die Materialien Glas, Stahl, Beton und Backstein. Damit ließen sich vor allem einfache Formen und klare Kompositionen realisieren: einfache kubische Formen, ineinandergeschobene Raumvolumen, freistehende Wandscheiben und kühne Auskragungen. Die neue Architektursprache folgte diesen Prinzipien – 1. Soziale Ökonomie: Die Wohnungsnot und der daraus resultierende Massenwohnungsbau zwingen zur Kargheit der Formensprache, Dekorationen und Ornament wurden dabei als Verschwendung angesehen. 2. Konstruktive Ökonomie: Die Reduktion tragender Teile auf einzelne Punkte und Flächen erlaubt ganz neue Gestaltungsmöglichkeiten - es ergeben sich freiere Formen bei weniger konstruktivem Aufwand. 3. Stilistische Ökonomie: Der formale Rigorismus und die klare asketische Form repräsentieren Allgemeingültigkeit und Objektivität und stellen ein künstlerisches Ziel dar. Wichtige Vertreter des Neuen Bauens waren unter anderem Le Corbusier, Adolf Loos, Walter Gropius, Otto Haesler, Hugo Häring, Erich Mendelsohn, Ludwig Mies van der Rohe, Gerrit Rietveld, Hans Scharoun, Bruno Taut, Max Taut, Ernst May, Mart Stam, Alvar Aalto, Pier Luigi Nervi und Jörn Utzon. Die beiden Planer von Zeche Zollverein, Fritz Schupp und Martin Kremmer, waren bestimmende Persönlichkeiten der von den Prinzipien des Neuen Bauens beeinflussten Industriearchitektur. Ihre beiden Bauten, das Erzbergwerk Rammelsberg in Goslar und Zollverein sind UNESCO Weltkulturerbestätten seit 1992 bzw. 2001.