Brüssel. Belgien. Victor Horta war einer der wichtigsten Architekten des Jugendstil und hat Brüssel mit geprägt. 2018 zelebriert die belgische Hauptstadt den Meister mit der ganzjährigen Architektur- und Kunstveranstaltung „Horta Inside Out“. Ein Streifzug zu einigen der wichtigsten Bauten der Schnörkel- und Gusseisen-Ära.
Das Horta Museum
Schmal, fein und hell steht das Horta Museum in der Rue Américaine und verbirgt zugleich die Größe, Tiefe und das Ausmaß des Hauses. „Das lag an der Fassadensteuer“, so Günter Pfeiffer, seines Zeichens aus Hamburg zugewanderter Brüsseler, der hier seit vielen Jahrzehnten lebt und arbeitet. Der kundige Stadtführer erläutert, dass die dicht bebauten Straßenzeilen in den Bezirken Ixelles, Saint-Gilles und hier in Châtelain auf den Erlass zurückzuführen sind, wonach die Häuser nicht breiter sein durften als 5,5 m. Zwischen Ende des 19. Jahrhunderts bis 1910 entwarfen Architekten Wohnhäuser, Hotels, Cafés und Kontore, die Brüssel zu einer der wichtigsten europäischen Art nouveau-Städte machten. Von den damals über 1000 Jugendstilbauten gibt es 100 Jahre später noch um die 500. Einer der prägendsten Vertreter jener Ära ist Victor Horta. Er starb vor über 70 Jahren. Das haben 20 Kulturinstitutionen, Museen und Organisationen in Brüssel zum Anlass genommen, um 2018 als Horta-Jahr zu deklarieren und um ihn mit Ausstellungen, Sonderveranstaltungen- und führungen zu ehren. Das Motto: „Horta Inside Out“. Nun stehen Pfeiffer und ich vor dem 1898 fertiggestellten Wohnhaus von Horta, das 1969 als Museum eröffnet wurde. Wie die schlanke Erscheinung täuscht: nachdem wir uns in beiden Teilen des Gebäudes von unten nach oben gearbeitet haben, hat man das Gefühl in einem üppigen Mehrfamilienhaus zu sein. So tief, vielschichtig und raffiniert hat Horta sein Wohn- und Arbeitshaus gestaltet, dass klar wird: sein Jugendstil ist so viel mehr als Schnörkel und Florales. Natürlich rollt sich seine berühmte und ornamentale Peitschenschlaglinie. Sie schlängelt und krümmt sich, sie jagt empor und vollführt Drehungen, aber die auch als „Horta-Linie“ bekannte Verzierung ist nur Teil des Ganzen. Beeindruckend ist die offene Raumgestaltung, bei der das Treppenhaus elementar für die Innenarchitektur ist. Durch die Anordnung scheinen die Räume ineinanderzufließen. Hinzu kommt der Einsatz von großflächigen Fenstern und Details wie angedeutete, raumtrennende mit Bleiglasfenster versehene Elemente, die einerseits Zierde sind, andererseits dem einen Zweck folgen: Licht hineinströmen zu lassen. Überhaupt, die Details: da sind die Heizradiatoren in der Eingangshalle an den Stufen, die zugleich wie Säulen wirken; die Lampen, die sich in den Raum drehen und damals für den technischen Fortschritt standen; die Materialienauswahl- und vielfalt, die immer beides verbinden: Ästhetik und Architektur.
"The stylistic revolution represented by these works is characterised by their open plan, the diffusion of light, and the brilliant joining of the curved lines of decoration with the structure of the building."
Begründung der UNESCO zur Aufnahme der vier Horta-Bauten Hôtel Tassel, Hôtel Solvay, Hôtel van Eetvelde und Maison & Atelier Horta als Weltkulturerbestätten
Jugendstil in Brüssel
Neben Victor Horta haben in der produktiven Art nouveau-Phase zwischen 1890 und 1910 u. a. diese Architekten gewirkt: Paul Hankar, Henry van de Velde, Albert Roosenboom und Octave van Rysselberghe. Natur- und Blumenornamente finden sich bei ihnen genauso wie Eisen- und Gusseisenelemente, die organischen Formen, Lichthöfe und Sgraffiti, einer Dekorationstechnik der Renaissance in Italien, bei der verschiedenfarbige Putzschichten abgekratzt werden bis das gewünschte Motiv herausgearbeitet ist. Dass Horta besonders gewürdigt wird, liege auch an seinem vielfältigen Werk, so Brüssel- und Jugendstilkenner Günter Pfeiffer. „Er ist mit seiner Arbeit nie stehengeblieben, sondern hat sich weiterentwickelt.“ Er habe neue Techniken in seine Entwürfe ebenso integriert wie andere Entwicklungen in der Architektur. Ein weiterer Schlüsselbau ist der Palast der Schönen Künste (BOZAR), der 20 Jahre nach seinem Wohnhaus in der Rue Américaine entstanden ist. Der Kunstpalast ist ähnlich wie der von ihm entworfene Zentralbahnhof (von Maxime Brunfaut ausgeführt und 1952 fertiggestellt) funktional und strenger in der Anmutung als der verspielt-verschnörkelte Art nouveau. Auf Lichtschächte und -kuppeln jedoch hat er auch in seinem Spätwerk nicht verzichtet, gut am Belgischen Comiczentrum zu sehen. Das 1906 erbaute Kaufhaus für Textilien wurde 1989 als Kunstmuseum für belgische Comics eröffnet. Nachdem das Gebäude zuvor lange Zeit verkam, wurde die Jugendstil-Architektur nach mehrjähriger Sanierung wiederhergestellt und für den Museumsbetrieb umgestaltet. Nicht allen Horta-Bauten erging es so. Das Maison du Peuple, das Haus des Volkes wurde 1965 ebenso abgerissen wie Hotels, Wohn- und Warenhäuser. Die diesjährige Ehrung von Horta sagt viel über den Wandel von Architektur und Stadtplanung in Belgiens Hauptstadt. Dass wir heute mehrere hundert Art nouveau-Gebäude erleben und erfahren können, ist nicht selbstverständlich. In den 1950er- und 1960er-Jahren hatten Stadtverwaltung und Bauunternehmen Tabula rasa gemacht und flächendeckend historische Gebäude durch Bürotürme und Hochhäuser ersetzt. „Brüsselisierung“ steht seitdem für die tiefgreifende Umwandlung und Zerstörung einer Stadt in Friedenszeiten. „Horta inside out“ verstehe ich hierbei auch als Bildungs- und Aufklärungsprogramm. Denn wer nach dem Besuch des Horta-Museums durch Ixelles, Saint-Gilles und Châtelain flaniert, sieht den großen Reiz jener Epoche: erkennbar Jugendstil, aber in der Einheit sehr verschieden. Dass es neben Vortragsreihen, Führungen mit dem Rad oder der Online-Ausstellung „Horta in 1.500 Bildern“ auch Aktivitäten für Kinder und Jugendliche gibt, ist ein wichtiger Bestandteil des Programms. Denn auch die nächste Generation sollte den Wert der Ära der Ornamentik, des Gusseisens und Lichts wert schätzen, allen voran: Victor Horta.
"The Major Town Houses of Architect Victor Horta in Brussels are works of human creative genius, representing the highest expression of the influential Art Nouveau style in art and architecture."
Begründung der UNESCO zur Aufnahme der vier Horta-Bauten Hôtel Tassel, Hôtel Solvay, Hôtel van Eetvelde und Maison & Atelier Horta als Weltkulturerbestätten
Maison Autrique mit Jan Dimog Unsere redaktionell unabhängige Recherchereise wurde ermöglicht durch die Tourismusagentur visit.brussels, bei der wir uns für die Koordination und Einladung bedanken.