5 Fragen an … Steffen Obermann – Die Rätsel der Baukunst
Interview /1. Was führt einen Architekten dazu, sich mit Bestandsbauten zu beschäftigen anstatt neu zu bauen? Bitte beschreiben Sie die Philosophie und Arbeitsweise von adb.
Da antworte ich als Architekt und Reisender gleichermaßen: Es gibt so viele herrliche Bauwerke, die viel erzählen von der jeweiligen Gesellschaft, ihrer Zeit und ihrem künstlerischen Gehalt. Bei Letzterem muss man als entwerfender Architekt erst einmal mithalten können, um zu bestehen. In meiner bisherigen Tätigkeit habe ich mich ja nicht allgemein mit Bestandsbauten, sondern ausschließlich mit Denkmalen beschäftigt. Da gibt es natürlich weniger oder mehr anregende Denkmale, aber alle erzählen sie uns Geschichten und Geschichte. Dieses Puzzle hat sich bei mir inzwischen zu einem eigenen Blick zusammen gefügt. Einer Instandsetzung, Restaurierung oder einem Umbau geht daher immer die Frage nach den Geschichten voraus, die ein Gebäude oder Ort in sich trägt. Das geht immer mit einer qualifizierten Archivarbeit und einer detaillierten Baubeobachtung einher. Daraus lassen sich dann die Leitlinien für das denkmalpflegerische Vorgehen ableiten. Zum Schluss gilt es , die bauliche oder architektonische Umsetzung zu bewältigen. Unser Büro sollte daher Büro für Bauforschung, Denkmalpflege und Architektur heißen. Dass wir uns mit adb abkürzen, hängt wohl damit zusammen, dass BDA bereits prominent belegt war.
2. Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit liegt in der Nachkriegsmoderne. Wie hat sich die Bewertung dieser Bauwerke gewandelt?
Leider hat sich die Bewertung der Bauten aus den 1950-er bis 1970-er Jahren noch immer nicht grundlegend gewandelt. Der Eindruck, es habe sich etwas geändert, mag entstehen, wenn man Fachzeitschriften, Fachtagungen oder den ein oder anderen Beitrag im Feuilleton verfolgt, aber die Anerkennung in der breiten Öffentlichkeit steht noch aus. Ende März 2020 meldet die Süddeutsche Zeitung, dass fünf Stationen der 1972 eröffneten sogenannten Olympia-Linie der U-Bahn unter Denkmalschutz gestellt werden. Reflexartig reagiert die Betreiberin mit Ablehnung und Bedenken statt mit Freude über die Anerkennung ihrer eigenen Architektur.
Die Ablehnung der Nachkriegsmoderne – was ist das eigentlich? Wir sprechen hier ja von sehr unterschiedlichen Positionen, wenn nicht gar Stilen der 1950-er, der 1960er, der 1970-er und inzwischen auch schon der 1980-er Jahre – begründet sich ja nicht in der Architektur selbst, sondern in ihrer Wahrnehmung. Die ist maßgeblich vom zeitlichen Abstand zwischen Objekt und Betrachter abhängig. Kurz gesagt, die Architektur der Eltern ist out, die der Großeltern irgendwie schräg und die der Urgroßeltern hip. Kein neues Phänomen: das Abstucken der heute so begehrten Gründerzeitfassaden schon in den 1930-er bis in die 1960er Jahre entspringt der gleichen Haltung.
3. Vor einigen Jahren betreuten Sie die Sanierung des Umlauftanks 2 von Ludwig Leo, einem Schlüsselbau der sogenannten Pop-Moderne in Berlin. Was macht dieses Gebäude aus?
Er ist und bleibt ein Rätsel. In Berlin kennt man ihn, man nimmt ihn wahr und weiß dennoch nicht, was er ist. Dabei ist der Umlauftank ein wahrlich funktionalistisches Konstrukt. Jedes Gebäudeteil bringt zum Ausdruck, welche Funktion es hat. Der Verdienst Ludwig Leos ist, dass er seinem Umlauftank 2 in Berlin als einzigem von weltweit etwa 80 vergleichbaren Anlagen einen architektonischen Ausdruck verliehen hat. Alle anderen Umlauftanks, so auch der sehr viel kleinere und nicht mehr existente erste Umlauftank in Berlin, sind technische Anlagen, die in belanglosen Industriehallen verborgen sind. Lediglich der Berliner Umlauftank zeigt, dass Wasser einem kontinuierlichen Strom umherläuft; zeigt, dass in der blauen Laborhalle die Strömungsversuche an einer offenen Stelle oben am Rohr stattfinden; zeigt mit den zwei großen Auspuffrohren, dass das Wasser mit Hilfe zweier gigantischer Dieselaggregate in Schwung gebracht wird und zeigt, dass das Wasser in einem Sockelbauwerk geparkt werden kann. Dennoch bleibt das schwierig zu lesen, da der Umlauftank letztlich der einzige Vertreter eines Bautypus geblieben ist und somit seine Rätselhaftigkeit behält.
4. Gerade haben Sie die Berliner Hansabücherei von Werner Düttmann saniert und übergeben. Was waren die Herausforderungen? Was macht dieses Haus so besonders?
Das Hansaviertel mit seinen Wohnbauten ist allseits bekannt. Die Hansabücherei hingegen führt im kollektiven Gedächtnis ein Schattendasein. Sie ist kaum bekannt, sie hat kein einprägsames Gesicht. Ein gutes Foto gelingt nicht leicht. Es fehlt die Schauseite, der markante Baukörper, das weit sichtbare Magazingebäude, der monumentale Eingangsportikus mit Freitreppe und Vorfahrt. Diese Zurückhaltung und Bescheidenheit sind jedoch die Stärken des Gebäudes. Große, tiefe gezogene Glasflächen zeigen, was einem innen erwartet. Vom Massenverkehrsmittel U-Bahn erreicht man überdacht den nahezu bodengleichen Eingang. Damit verkörpert die Bücherei aus der ersten Generation der Bibliotheksbauten nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin das Gegenteil zur imposanten Staatsbibliothek Unter den Linden, 1914 die vermutlich letzte fertig gestellte Bibliothek vor dem Ersten Weltkrieg. Die Hansabücherei soll die erste ausschließliche Freihandbibliothek ohne Magazin gewesen sein, niedrige Hemmschwellen außen wie innen. Die Bücherei verfügte bereits 1957 über sehr viel Platz zum Lesen und Verweilen mit großer Aufenthaltsqualität. Der zentrale Lesegarten ist eine Oase. Heute werden solche öffentlichen Räume als „third places“ neu erfunden. Heute sehe ich dort Schüler*innen, die ihre Hausaufgaben machen, Nachbarn, die Zeitung lesen, Seniorengruppen, die Sprachen üben oder Kleingruppen, die zusammen klassische Musik hören und besprechen. Diesen gut funktionierenden sozialen Ort galt es zu erhalten und Versuchungen nach mehr vermeintlichem Komfort und dem Ruf, angeblich veraltete Standards aufzugeben, zu widerstehen. Und dennoch gibt es nun barrierefreie und genderneutrale Toiletten und Computerarbeitsplätze.
5. Wo ist Ihr Lieblingsort in Berlin und außerhalb? Warum?
Mein Lieblingsort in Berlin ist die Kapelle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche von Egon Eiermann, ein weiteres bescheidenes und wenig beachtetes Bauwerk im Trubel des Breitscheidplatzes, leider allzu oft hinter Marktbuden verborgen. Das hält das Bauwerk allerdings gut aus, denn es lebt ähnlich wie die große Schwester, die blau leuchtende Kirche, vom Innenraum. Der bodentief verglaste Raum ist von einem kleinen Gartenumgang umgeben, bevor die hellen Betondickgläser den Stadtraum aussperren. Der Garten gleicht einem nach außen gestülpten Kreuzgang und verleiht der Kapelle eine lichte Atmosphäre und nach innen gerichtete Konzentration. Die Kapelle ist für mich das Ideal eines protestantischen Andachtsraumes. Außerhalb Deutschlands komme ich schnell auf die normannische Kathedrale von Durham: kein anderes Bauwerk empfinde ich so kraftvoll und so Kraft spendend. Sie liegt leider etwas ab vom Schuss und muss daher in der Regel immer wieder unerreichte Sehnsucht bleiben. Ein noch weiter entfernter Sehnsuchtsort ist das Getty Center in Los Angeles von Richard Meier. An keinem anderen Ort sind Landschaft, Architektur, Gartenbau und Kunst so wunderbar ineinander verwoben und vom Alltag enthoben.
Dipl.-Ing. Architekt MA (GB) Steffen Obermann
Jahrgang 1967, hat Architektur und Denkmalpflege in Braunschweig, Zürich, Stuttgart und York studiert. Seit 2000 leitet er mit seinem Partner Michael Ewerien das Büro für Architektur, Denkmalpflege und Bauforschung in Berlin. Steffen Obermann ist Holzschutzgutachter und Sachkundiger Planer für Betoninstandhaltung; er ist Lehrbeauftragter für Bestandserfassung und Kostenplanung am Masterstudiengang Altbauinstandsetzung des Karlsruher Institut für Technologie KIT; Mitglied bei ICOMOS Deutschland.