Architektur des Optimismus – Modernistisches Bauen in Kaunas
Beitrag /Was für ein Schicksal. Die Litauer hatten nach dem Ersten Weltkrieg kaum ihren Staat von den Russen zurück gewonnen, da nahmen die Polen ihnen Vilnius mit militärischer Gewalt. Eine neue Hauptstadt musste her, die Wahl fiel auf Kaunas. Die alte Handelsstadt am Zusammenfluss von Neiris und Nemunas (Memel), umgeben von einem Ring aus neun mächtigen Forts, war eine bedeutende zaristische Garnison, auf ihre neue Funktion aber kaum vorbereitet. Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur brauchten neue Gebäude, für die rasch wachsende Bevölkerung mussten Unterkünfte geschaffen werden.
In den gut zwanzig Jahren, die Kaunas bis zum Einfall der Sowjets und der Nazideutschen blieben, ließen die öffentliche Hand und Privatleute rund zwölftausend Häuser errichten, siebzig Prozent in der traditionellen Holzbauweise, für die es keinen Denkmalschutz gibt. Von den Bauten aus Ziegel und Zement sind an die 1500 erhalten, die sich dem Modernismus zuordnen lassen. Entworfen haben sie mit erstaunlicher kreativer Energie einheimische Architekten, die vom Internationalen Stil zwar beeinflusst waren, ihm aber meist eine lokale Ausprägung gaben.
Zusammen mit Esch-sur-Azette in Luxemburg wird Kaunas 2022 Kulturhaupstadt Europas. Eine gewichtige Rolle bei der Bewerbung spielte die modernistische Architektur, die bereits seit 2015 mit 44 Objekten in der Liste des Europäischen Kulturerbes verzeichnet ist. Doch der Ehrgeiz der zweitgrößten Stadt Litauens zielt noch höher. Unter dem Claim „Architecture of Optimism“ sieht sie gute Chancen, von der Unesco mit dem Gesamtbestand an modernistischen Bauten in das Weltkulturerbe aufgenommen zu werden.
Kaunas
Zweitgrößte Stadt Litauens mit 315.000 Menschen (Stand 2021). Die heutige Stadt geht auf litauische Burgenanlagen im 14. Jahrhundert zurück. Kaunas entwickelte sich zu einem bedeutenden jüdischen Zentrum und war im Laufe ihrer Geschichte von russischen, schwedischen und deutschen Truppen besetzt. In der polnischen Okkupationszeit war Kaunas von 1920 bis 1940 die provisorische Hauptstadt Litauens. Heute ist Kaunas Industrie-, Bildungs- und Wissenschaftsstandort und der wichtigste Verkehrsknotenpunkt des Landes. Die Textilkunst-Biennale findet hier seit 1997 regelmäßig statt und hat sich zu einer international bedeutenden Kunst- und Kulturveranstaltung etabliert. Kaunas wird 2022 zusammen mit Esch an der Alzette in Luxemburg die Kulturhauptstadt Europas sein.
Die Architekten der in der Bildstrecke gezeigten Bauten in der Reihenfolge ihres Auftretens
Feliksas Vizbaras
einer der meistbeschäftigten Baumeister der Zwischenkriegszeit, wurde 1880 nahe der Stadt Panevėžys geboren. Von 1922 bis 1925 leitete er die Baubehörde in Kaunas. 1944 zog er nach Deutschland. Er starb 1970 in München, ohne je wieder als Architekt gearbeitet zu haben.
Arnas Funkas
geboren 1898 in Smolensk, studierte in Kaunas und Berlin Bauingenieurwesen. Er gilt als einer der progressivsten Vertreter des Funktionalismus, arbeitete mit Stahlskelett und Stahlbeton. Auch als Innenarchitekt machte er sich einen Namen. Er starb 1957 in Pinneberg bei Hamburg.
Adolfas Lukošaitis
geboren 1906 in St. Petersburg, schloss er seine Studien in Kaunas ab und betrieb dort ein Architekturbüro. Nach vielen Jahren als Hochschullehrer starb er 1993 in Kaunas.
Bronius Elsbergas
geboren 1901 in Pasandravi. Nach der Ausbildung in Toulouse und an der Kunstgewerbeschule der Universität Brüssel arbeitete er für die Baubehörde in Kaunas und entwarf Privathäuser. 1945 bis 1949 ließ er sich als Architekt in Paris nieder, danach zog er in die USA nach New Jersey und baute Brücken. Er starb 1998 in Brigantine.
Vytautas Landsbergis-Žemkalnis
1893 in Pakruojis geboren, starb mit hundert Jahren in Vilnius. Nach dem Abschluss seiner Ausbildung zum Architekten in Rom entwarf er bis 1939 eine Vielzahl öffentlicher, kommerzieller und privater Gebäude des Modernismus in Kaunas. 1944 zog er nach Deutschland, später nach Australien und 1959 zur Überraschung vieler zurück ins kommunistische Litauen. In seinem bewegten Leben zwischen Politik und Architektur erhielt er staatliche Auszeichnungen von Litauen, dem Dritten Reich, Australien, der Sowjetunion und Israel, wurde geschmäht als Kollaborateur und gefeiert als Gerechter unter den Völkern.
Nikolajus Mačiulskis
Über seinen Lebenslauf ist wenig bekannt. Neben einigen Villen zeugt in Kaunas vor allem sein Umbau der mächtigen Seidenfabrik Kauno Audenai, inzwischen Teil des Shopping und Entertainment Centers Akropolis, von seiner Arbeit.
Karolis Reisonas
geboren 1894 in der Nähe von Riga schloss er seine Studien in St. Petersburg ab. Zwischen 1930 und 1939 trug er wesentlich zum modernistischen Architekturbild von Kaunas bei. Seit 1932 litauischer Staatsbürger nahm er beim Bau der Auferstehungskirche den katholischen Glauben an. Über Deutschland emigrierte er 1949 nach Adelaide in Australien, wo er im Alter von 87 Jahren starb.
Antanas Jokimas
geboren 1894 in Juodaičiai. Absolvent des Instituts für Bauingenieure in St. Petersburg. Als Mitarbeiter der Baubehörde in Kaunas entwarf er Schulen und Privathäuser. Er starb 1964 in Kaunas.
Juozas Milvydas
wurde 1887 in Vižančiai geboren und studierte in St. Petersburg. 1941 beteiligte er sich am Aufstand gegen die sowjetischen Besatzer in Kaunas, drei Jahre später kam er unter den Nazis im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig um.