Das rote Kastell
Übernachten:Alvar Aalto zählt unbestritten zu den einflussreichsten Architekten der europäischen Moderne. Sein Schaffen spannt von den frühen 1920er Jahren bis zu seinem Tod 1976 und darüber hinaus. Gemeinsam mit seinen beiden Frauen Aino und Elissa hat er mehr als 200 Bauwerke errichtet, darunter sechs in Deutschland. Hinzu kommen 300 nicht realisierte Bauten, sowie Entwürfe für Möbel, Leuchten und Glasobjekte. Stilprägend waren seine organischen Linien, kennzeichnend seine tiefe Verwurzelung in der finnischen Natur, einfallsreich seine Verwendung und Verarbeitung natürlicher Materialien. Aalto setzte schon früh entscheidende Impulse für ein nachhaltiges und menschenfreundliches Bauen, die Generationen von Architektinnen und Architekten bis heute prägen. Zurecht läuft unter dem Titel „The Architectural Works of Alvar Aalto - a Human Dimension to the Modern Movement“ derzeit ein UNESCO-Welterbeantrag Finnlands auf Anerkennung seiner künstlerischen Kraft und herausragenden Rolle für die Architektur des 20. Jahrhunderts - so wie es bereits Le Corbusier (2016) und Frank Lloyd Wright (2019) bescheinigt wurde. Der Prozess ist langwierig und ein bürokratischer Kraftakt. Ein wichtiger Baustein auf diesem Weg ist das bürgerschaftliche Engagement der lokalen Bevölkerung, sowie die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für den Erhalt des Bauwerks.
Ein wichtiger Akteur auf diesem Weg ist Harri Taskinen. Er zog vor etwa sechs Jahren nach Säynätsalo. Auf der Suche nach einem Büroraum stieß er auf das verwaiste Rathaus. Was war geschehen? Nachdem Säynätsalo 1993 in das benachbarte Jyväskylä eingemeindet wurde, zogen die Mitarbeiter*innen nach und nach aus. 2015 ging das Licht aus. Das Haus stand ein Jahr nahezu leer. Zwar war der kulturelle Wert des Gebäudes allen bewusst – es wurde 1994 unter Denkmalschutz gestellt – doch gab es keine Ideen, es zu bewirtschaften. Taskinen und die Stadt einigten sich nach kurzen Verhandlungen darauf, dass er einen Arbeitsraum in dem Gebäude bekam. Als Gegenleistung sollte er sich um das Haus kümmern und es offenhalten für interessierte Besucher.
Taskinen ist kein Architekt oder Kunsthistoriker. Sein Wissen um Aalto begrenzte sich zunächst, wie er selbst sagt, auf das eines jeden Finnen. Schließlich hat jeder Haushalt im Land einen Stuhl oder eine Vase von den Aaltos im Schrank. Mit der Zeit arbeitete er sich in das Thema ein. Bei unserem Besuch durchs Haus strahlt Taskinen. Er lebt für das Haus, scheint jede Schraube zu kennen, jede Ecke zu jeder Tageszeit. Seine Leidenschaft, die Magie des Hauses zu vermitteln, ergreift auch uns. Er sei überrascht gewesen, wie viele Menschen von weither gereist kamen, um das Rathaus zu besichtigen. Also entschied er sich, sich weiterzubilden, sein erworbenes Wissen zu teilen in Führungen, Vorträgen und Publikationen, auch um es denjenigen zugänglich zu machen, die über kein explizites Fachwissen verfügen. Heute besuchen jährlich etwa 3.000 bis 4.000 Menschen Säynätsalo.
Piazza am Päijänne
Der Tod seiner geliebten Frau Aino war 1949 gewissermaßen ein Wendepunkt im Leben Alvar Aaltos. Bereits zu seiner Zeit in Boston hatte er die „Rote Phase“ eingeleitet. Ziegelstein war in den 1940er und 1950er-Jahren sein bevorzugtes Baumaterial. Aus ihnen formte er monumentale, frei ausgreifende Baukörper, die er mit verschiedenartigen Öffnungen aufbrach und durchschnitt. So auch beim Rathaus von Säynätsalo. Aalto gewann den geladenen Wettbewerb 1949 mit einem Entwurf, den er bezeichnenderweise Curia nannte. Die sorgfältige Komposition der Bauteile ist unverkennbar als eine Neuinterpretation italienischer Hügelstädte zu lesen. Sie hatten Aalto auf seinen Reisen durch Italien tief beeindruckt. Das Ensemble besteht aus vier Flügeln, die einen erhöhten Patio umschließen, der nach außen mit hohen Wänden abgeschlossen ist und alles Leben nach Innen zieht. Zwei Treppenanlagen führen zu beiden Seiten auf den höher gelegenen Platz. Der Turm des Ratssaals überragt die gesamte Anlage. Im Zentrum platzierte er einen Brunnen und den Bronzeguss „Tänzer“ des Bildhauers Väino Aaltonen. An sonnigen und warmen Midsommer-Tagen träumt man sich hier unweigerlich an eine mediterrane Piazza.
Magisch nächtigen
Aalto gestaltete das Rathaus als ein Gesamtkunstwerk, von der städtebaulichen Figur bis zu den Türklinken und der eleganten Ausstattung mit viel Kiefernholz und Leder. Er soll mehr als 200.000 Ziegelsteine geordert haben, um eine perfekte Auswahl an Farbigkeit und Oberflächenstruktur treffen zu können. Die Möbel in den Besprechungsräumen und in den Fluren gestaltete Artek-Designerin Maija Heikinheimo. Beinahe alles hier ist noch im Original erhalten. Notwendige Veränderungen in der Bibliothek, den Büroräumen, sowie in den Gästezimmern wurden mit besonderer Sorgfalt in die Architektur einfügt, ohne die fein austarierte Atmosphäre zu stören. Es war auch Taskinens Idee, in den ursprünglichen Wohnungen Übernachtungsmöglichkeiten anzubieten. Von den Zimmern fällt der Blick auf die Piazza oder in den angrenzenden Kiefernhain. Bezogen werden können Übernachtungsmöglichkeiten für bis zu vier Personen inklusive eigener Küche. Auf Wunsch kann auch ein Zusatzbett in Kindergröße zugestellt werden. Das hauseigene Café bietet Frühstück und kleinere Speisen an.
Säynätsalo ist ein magischer Ort. Und wie gelänge es besser, dies zu erfahren als hier zu übernachten im Tahiti des Päijänne-See.