Baukunst in der Landschaft – Provençalische Symphonie
Auf Reisen:1. Satz: Villa Noailles
Oberhalb der verwinkelten Altstadt von Hyéres führt eine steile Treppe ins Paradies. Der Vicomte de Noailles ließ an der Südseite der Bergkette Les Maurettes Mitte der 1920er-Jahre eine Gartenlandschaft mit ausgesuchter Botanik auf breiten Terrassen pflanzen. Charles und seine Frau Marie-Laure De Noailles hatten das Grundstück geerbt. Sie beauftragten den noch jungen Architekten Robert Mallet-Stevens zunächst mit dem Bau einer bescheidenen Winterresidenz. Noch während der Ausführung wünschten sich die Auftraggeber, wohlhabende Pariser Intellektuelle, Erweiterungen. Es folgte unter anderem ein Schwimmbad mit im Boden versenkbaren Glasfassaden, eine Sporthalle und diverse Terrassen auf denen die Gäste ausgelassen feierten. Im Südwesten ergänzte der armenische Landschaftsarchitekt Gabriel Guévrékian einen „kubistischen Garten“. Das Anwesen galt in den 1930er-Jahren schnell als Hotspot der internationalen Hautevolee. Persönlichkeiten aus der Welt der Kunst, der Mode, des Designs und der Literatur gaben sich die Klinke in die Hand, darunter internationale Künstler wie Luis Buñuel, Man Ray und Salvador Dalí. Nach langem Leerstand wurde es 1996 umfassend saniert. Heute ist das avantgardistische Anwesen französisches Kulturdenkmal. Es beherbergt das Festival International des Arts de la Mode d’Hyères und seit 2006 die Design Parade (mit einem Ableger im alten Bischofssitz am Cours Lafayette der benachbarten Stadt Toulon).
2. Satz: Fondation Carmignac
Von der Villa Noailles fällt der Blick auf die goldenen Klippen der Îles d’Hyères. Die Inselgruppe steht fast vollständig unter Naturschutz. Ihre Strände zählen zu den schönsten Europas. Ein Platz der Ruhe und Kontemplation. Genau nach so einem Ort suchte der französische Kunstsammler Edouard Carmignac – weit weg von der alltäglichen Hektik der Stadt. 2018 eröffnete er die Fondation Carmignac als Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst auf der Hauptinsel Porquerolles. Bereits die Anreise gehört zum Ritual der inneren Einkehr. Das zwölf Quadratkilometer kleine Eiland erreicht man nur mit dem Schiff. Startpunkt ist der Port de la Tour Fondue in der nahegelegenen Bucht. Dutzende Yachten schunkeln im Hafen des kleinen 300-Einwohner-Inseldorfes. Von Verkehrslärm fehlt hier jede Spur. Alle Inseln sind autofrei. Der Fußweg zur Fondation ist unbefestigt. Pinien und Eukalyptus säumen den Weg. Nach etwa zwanzig Minuten empfängt ein weit ausladendes Eisentor die Gäste. Zwischen den Bäumen stehen Schließfächer. Taschen und anderer Krempel sollen draußen bleiben, Geist und die Gedanken frei sein für die Kunst. Der Einlass ist begrenzt, sodass man nur wenigen Menschen auf dem 15 Hektar großen Grundstück begegnet. Das Herzstück des Anwesens liegt auf einem Hügel. Carmignac ließ das ehemals provençalische Landgut, das bereits der Architekt Henri Vidal als Wohnhaus umgestaltet hatte, als Museum umbauen. Aufgrund der Naturschutzauflagen befinden sich die meisten Ausstellungsräume unter der Erde. Den zentralen Innenhof überspannt eine gläserne Decke durch das die Sonnenstrahlen über ein darüber befindliches Wasserbassin in den Raum scheinen. Sie tauchen die Räume in ein sphärisches Licht. Außen erscheinen die Skulpturen und Installationen zwischen den Weinreben, den Olivenbäumen und dem Oleander des Landschaftsparks beinahe als Nebendarsteller. Alle Sinne werden angesprochen: es duftet, es raschelt und knirscht. Dieses umfassend sinnliche Erleben von Kunst in der Natur macht die Fondation Carmignac zu einem wahrhaftigen Kunst-Retreat.
3. Satz: Hôtel de Caumont – Centre d’Art
Szenenwechsel: Dutzende Hôtels particuliers schmücken die Altstadt und das Mazarin-Viertel von Aix-en-Provence. Die prachtvollen Stadtresidenzen und deren geheime Gärten wurden größtenteils im 17. Jahrhundert vom lokalen Adel angelegt, um ihren aristokratischen Status zu unterstreichen. Die Anwesen hinter den hoch aufragenden Sandsteinmauern erinnern dabei an große Palastanlagen inmitten von Parks. Zu den sicherlich schönsten zählt das Hôtel de Caumont. François Rolland de Réauville, Marquis de Cabannes und zweiter Präsident des Rechnungshofs von Aix-en-Provence, ließ das Stadthaus ab 1715 im neuen Mazarin-Viertel nach einem Entwurf von Robert de Cotte, dem Chefarchitekten und Verwalter der königlichen Residenzen, errichten. Es wurde erst nach seinem Tod fertiggestellt und wechselte in der Folgezeit mehrmals seinen Besitzer. Im Jahr 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, verlor das Haus vollständig seinen früheren Glanz. Die Verwalterin Hélène Ardevol ließ es in mehrere Wohnungen aufteilen. Als mutiges Mitglied der Résistance beherbergte sie zahlreiche Widerstandskämpfer in der Villa, bevor sie von den Behörden beschlagnahmt wurde. Später ging sie wieder in privaten Besitz über. Ab 1970 zog das Nationale Konservatorium für Musik und Tanz Darius Milhaud ein. Zwanzig Jahre später wurde das gesamte Ensemble unter Denkmalschutz gestellt. 2010 erwarb das Unternehmen Culturespaces das Anwesen. Sie ließen Gebäude und Garten aufwendig rekonstruieren. Seit 2015 finden im Hôtel de Caumont Centre d’Art Konzerte, Lesungen, Vorträge und jährlich zwei Wechselausstellungen statt, die den großen Namen der Kunst gewidmet sind. Mehrmals täglich wird der Film „Cezanne au pays d’Aix“ über den französischen Maler und seine Verbindung zur Region gezeigt.
4. Satz: Château Bonisson
Rosmarin und Lavendel liegen in der Luft. Honigfarbenes Licht fließt die Hügel hinab. Über allem thront der Montagne Sainte-Victoire. Bereits Paul Cézanne war von dem Massiv fasziniert. Ganze siebenundachtzig Mal brachte er seinen Berg auf die Leinwand. Rognes heißt die kleine Gemeinde in der Provence etwa 20 km nördlich von Aix-en-Provence. Hier fanden Victoire Le Dorze und ihr Vater Christian 2017 ein verwunschenes Landgut, das sie gemeinsam in einen Ort der Kunst und Weinkultur verwandelten. „Château Bonisson ist auch eine Geschichte über ein schönes Vater-Tochter-Abenteuer,“ schwärmt Christian Le Dorze bei unserem Besuch. „Wir beide teilen die Begeisterung für Natürlichkeit und Authentizität.“ Sie renovierten das Anwesen, stellten auf biologische Landwirtschaft um und ergänzten es Ende 2020 um eine Galerie für zeitgenössische Kunst. Gezeigt werden französische und internationale Künstlerinnen und Künstler. Durch deren Unterstützung und vier Ausstellungen pro Jahr möchte das Bonisson Art Center nicht nur deren Werke, sondern auch die Karriere der Kunstschaffenden fördern und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen.
5. Satz: Château La Coste
Nur wenige Kilometer weiter setzt das Château La Coste auf Pritzker-Power. Nirgendwo sonst in der Provence sind mehr Preisträger vereint. Das Weingut in Le Puy Sainte Réparade ist längst kein Geheimtipp mehr. Was vor etwa fünfzehn Jahren mit zwei zehn Meter hohen Tonnen aus Stahlblech begann, ist heute ein Großunternehmen und ein Freiluftmuseum internationaler (Bau)Künstler. Jean Nouvel hatte die ersten beiden Hallenbauten für die Weinproduktion errichtet. Schnell folgte ein minimalistisches Empfangsgebäude von Tadao Ando – natürlich aus Beton. Von ihm kommt auch der Masterplan der gesamten Anlage. Auf dem Kunst- und Architekturparcours durch die Weinberge spaziert man heute vorbei an Bauten von Jean Prouvé, Kengo Kuma, Jean-Michel Wilmotte, Renzo Piano, Frank O. Gehry und Richard Rogers. Zuletzt eröffnete eine Galerie von Oscar Niemeyer. Sein schneeweißer Pavillon schwingt elegant durch die Vermentino-Reben. Hinzu kommen Kunstinstallationen, die sich taktvoll in die Landschaft fügen, darunter Werke von Louise Bourgeois, Alexander Calder, Hiroshi Sugimoto, Yoko Ono und Bob Dylan. Architektur und Kunst verbinden sich auch hier zu zu einer provençalischen Symphonie der Sinne.
THE LINK-Tips
Château Bonisson und Château La Coste sind ca. eine Viertelstunde Autofahrt voneinander entfernt und in 30 Min. von Aix-en-Provence zu erreichen. Für beide Weingüter sollten sich Interessierte mindestens einen halben Tag Zeit nehmen. Im Château La Coste lohnt die Mittagspause im Restaurant „Tadao Ando“. Der 20-minütige Film über Cezannes Leben in Aix im Caumont Centre d’Art ist kostenfrei und veranschaulicht Werk und Wirken des Künstlers in der Region und darüber hinaus. Für die Erkundung der Villa Carmignac auf der schönen Insel Porquerolles hatten wir einen ganzen Nachmittag, den man auch braucht. Bitte auf die Rückfahrzeiten der Fähren gen Festland achten.
Recherchereise
Unsere redaktionell unabhängige Recherchereise wurde von Atout France sowie Provence-Alpes-Côte-d’Azur und Le Var unterstützt. Eine gekürzte Fassung dieses Textes erschien auch bei unserem Kooperationspartner Urlaubsarchitektur.