Ausstellung Archistories – Zwischen Wand und Welt in der Orangerie
Reportage /
Architektur ist kein Stillleben. Sie prägt Bewegungen, Blicke, Temperatur, Akustik – und unser Gedächtnis. „Archistories – Architektur in der Kunst“ macht daraus ein Panorama: rund 100 Arbeiten von 70 Künstler:innen, die Gebäude, Städte und Übergangsräume befragen – spielerisch, humorvoll, kritisch. Die Schau eröffnet am 29. November 2025 die sanierte Orangerie der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Mit der Wiedereröffnung der Orangerie kehrt die Kunsthalle sichtbar in die Stadt zurück, während das Hauptgebäude im Rahmen der mehrjährigen Sanierung voraussichtlich bis 2029 geschlossen bleibt.
Der Zugriff ist zweifach: Aus dem Sammlungsbestand kommen Gemälde, Zeichnungen, Grafiken, Plastiken; zeitgenössische Positionen fügen Fotografie, Video und Installationen hinzu. So tritt Historisches mit Gegenwart in Dialog – ohne Lehrbuchgeste, eher wie ein gut gesetztes Gespräch: Was zeigen Veduten – präzise, topografische Stadtansichten – wirklich? Wie klingen Industriehallen? Wann wird die Ruine zur Metapher, wann zur Mahnung?
»Wenn Kunst sich mit Architektur befasst, dann immer auch mit Sprache, Körper und Raum, mit dem, was uns umgibt, bedingt, ausmacht und was wir formen – im Versuch, heimisch zu werden und zu bleiben.«
Dr. Kirsten Claudia Voigt, Kuratorin der Kunsthalle Karlsruhe
Im Gespräch mit Dr. Kirsten Claudia Voigt wird klar, wie die Auswahl gedacht ist: kein enzyklopädischer Rundumschlag, sondern Verdichtung. „Mein Filter ist Qualität. Neue Idee, Witz, Relevanz – kein Mittelmaß“, so die Kuratorin der Schau. Es geht um Werke, die treffen: die Architekturen nicht illustrieren, sondern umdrehen, als Gleichnis lesbar machen – und Selbstdenken provozieren. Positionen wie Henrique Oliveira (organisch wuchernde Holz-Installationen), Elger Esser (fotografische Zeitlandschaften), Rebecca Ann Tess (Video, Bildpolitik) oder Alain Delorme („Totems“, 2010) veranschaulichen diese Spannweite – ergänzt um Klassiker aus der Sammlung, von der Stadtansicht bis zur Skulptur.
Die Themenfelder ziehen Linien durch die Zeit: Lebensräume und Daseinsbilder, Räume wie Passagen, Bahnhöfe, Hotels; Machtarchitektur zwischen Pathos und Kritik; Industrie und ihre erhabenen, manchmal brüchigen Volumina; Gefängnisbilder als Frage nach Blick, Körper, Kontrolle. Architektur erscheint dabei körperlich – Voigt spricht von „gelungener Architektur für den ganzen Körper“ – und als Seelenraum: Räume, die uns denken lassen, bevor wir Worte dafür haben.
Kuratorial setzt „Archistories“ auf Lesbarkeit statt Überwältigung. Die Ausstellung bleibt bei etwa 100 Werken – viel Stoff, aber präzise gefiltert. Ein Begleitprogramm mit Artist Talks, einer Filmreihe, Führungen und Vermittlungsformaten öffnet weitere Türen; Klang und Text rahmen einzelne Stationen, ohne fertige Deutungen zu diktieren. Ziel: „Jedes Werk soll zum Selbstdenken einladen“, so Kuratorin und Konservatorin Voigt, die seit 1999 Lehrbeauftragte am KIT ist und die vor ihrer Zeit in der Kunsthalle als freie Kunst-, Theater- und Literaturkritikerin für verschiedene Tageszeitungen arbeitete.
Dass ausgerechnet die Orangerie diesen Auftakt markiert, ist mehr als ein Ortseintrag. Das ehemalige Gewächshaus wird zur Werkstatt für Blickwechsel: ein Raum, der lange schmerzlich vermisst wurde und nun – sprichwörtlich – Luft und Licht zurückbekommt. Das Hauptgebäude bleibt nach aktuellem Stand noch einige Jahre geschlossen; Teile der Sammlung werden in der Zwischenzeit als KunsthalleKarlsruhe@ZKM präsentiert. Die Orangerie markiert den Neustart: Im Herbst 2025 wurde sie mit dem Bürger-Festival „Room to Grow“ wieder eröffnet und soll künftig dauerhaft als Ort für Sonderausstellungen bespielt werden – aktuell mit „Archistories“. Der Katalog erscheint begleitend und ist bereits im Onlineshop der Kunsthalle gelistet (48 €).
Aus der baulichen Öffnung folgt eine kuratorische Entscheidung: Die Schau verzichtet auf fertige Antworten und öffnet Denkräume. Architektur ist Weltgestaltung. Wer die Exponate ernst nimmt, findet keine Checkliste, sondern Fragen, die in den Stadtraum zurückwirken: Wie leben wir zusammen? Welche Bilder von Ordnung, Freiheit, Fürsorge prägen unsere Gebäude? Und wie lassen sich Ressourcen, Bestand und Begehren in eine Sprache übersetzen, die mehr kann als Renderings? Archistories antwortet nicht, es stellt Fragen – und macht so den Blick frei für das, was wir sehen wollen, wenn wir ein Haus anschauen: uns selbst.
»Architektur umgibt uns jeden Tag unseres Lebens. Sie beeinflusst und prägt uns, kann uns erfreuen, erbauen, ein Zuhause geben, Wohlbefinden auslösen oder auch einschüchtern und verschreckt zurücklassen ... mit Gebäuden und Räumen verbinden wir Geschichten, sie können wie Freunde und alte Bekannte sein.«
Frédéric Bußmann, Kunsthistoriker, Kurator und Direktor der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe.
Archistories. Architektur in der Kunst. Ausstellung von 29.11.2025–12.04.2026
Ort: Orangerie, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Eröffnung der sanierten Orangerie). Laufzeit: 29.11.2025–12.04.2026. Umfang: rund 100 Werke, 70 Künstler:innen, fünf Jahrhunderte. Medien: Malerei, Zeichnung, Grafik, Plastik + Video, Fotografie, Installation. Begleitprogramm: Talks, Filmreihe, Führungen. Details tagesaktuell bei der Kunsthalle.
Archistories – Architektur in der Kunst. Katalog herausgegeben von: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
Kunst spricht über Architektur – spielerisch, kritisch, poetisch. Archistories zeigt, wie Bilder, Filme, Fotos und Installationen unsere gebaute Umwelt befragen: Lebensräume und Übergänge (Straßen, Passagen, Bahnhöfe, Hotels), Machtbauten zwischen Pathos und Widerspruch, Industrie als Monument und Maschine, Gefängnisse als Räume von Blick und Kontrolle. Historische Arbeiten treten mit Gegenwart in Dialog; die Schau setzt auf Verdichtung statt Enzyklopädie – etwa 100 Werke aus fünf Jahrhunderten, präzise ausgewählt. Von Giovanni Battista Piranesi bis Robert Delaunay, von Otto Dix und Lyonel Feininger bis zu zeitgenössischen Positionen wie Rebecca Ann Tess, Isa Melsheimer, Henrique Oliveira oder Alain Delorme: Architektur erscheint als Körpererfahrung und Seelenraum – etwas, das uns denken lässt, bevor wir Worte dafür haben. Die Orangerie der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe eröffnet mit dieser Ausstellung ihren Neustart und macht sichtbar, was gute Architektur immer kann: öffnen, erklären, verhandeln. Katalog: „Archistories: Architektur in der Kunst“ (hrsg. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe), Deutscher Kunstverlag, erschienen März 2025, 48 €, ISBN: 978-3-422-80072-4 (ISBN-10: 3422800727), 304 Seiten; Softcover (Paperback), ca. 21 × 25 cm
Karte mit den Bauwerk(en)
Interaktive Karte mit Bauwerke(n):
Orangerie Karlsruhe und Bauten im Botanischen Garten (Heinrich Hübsch [GER. Karlsruhe] ; 1857) |