Kopfgeburten von Filip Springer –  Nachwehen

Buchwelten:

Die Architekturreportagen, die zum Bestseller wurden.

Nachwehen

Beton — Polen | 

"Dann parkten wir das Auto und gingen hin, um die Gebäude – meistens schweigend – zu betrachten. Irgendetwas an ihnen zog uns an, aber nur Marek als Architekt konnte erkennen, was es war. In diesen Situationen sagte er:

"Gute Architektur"

Dann fuhren wir weiter. Da passte es nicht zusammen, dachte ich. Wenn das gute Architektur sein sollte, warum sah sie dann so abgewrackt aus? Und wenn sie so abgewrackt aussah, warum gefiel sie mir dann? Und was heißt überhaupt "gut"? ... Auf einer unserer gemeinsamen Reisen fiel das Stichwort "von schlechter Geburt" – so der polnische Originaltitel von Projekt und Buch –, eine treffende Bezeichnung für diese Gebäude. Sie wurden in einer schlechten Zeit geboren, in einer schwierigen, schmerzvollen, miesen Zeit."

Waren die Polen wirklich zu diesen Plattenbauten verurteilt?

Dem Vorwort muss in Teilen dieser Raum gegeben werden, weil er zeigt was den Reporter und Fragesteller Filip Springer antreibt: Neugierde, Offenheit, Verwunderung und die Suche nach Antworten und Tiefe. Und so begibt er sich fotografisch und journalistisch auf einen essayistischen Ausflug in die Nachkriegsmoderne der Volksrepublik Polen, der sich gleichermaßen für die Bauten und die Erbauer interessiert. Die Architekten gewinnen in Springers Beschreibungen und Begegnungen an Statur, ihr Antrieb und die künstlerische Haltung werden nachvollziehbar. Der lakonisch-erzählerische Ton passt gut zu den Geschichten, die sich wie lang verblasste Historie anfühlen, anhören und auch so aussehen – so monochrom, körnig und entsättigt sind die ebenfalls von Springer erstellten Bilder. Dabei sind einige Gebäude noch keine 40, 50 Jahre alt. Der Kontrast aus jetzigem Schreiben (an dieser Stelle ein Dank für die gelungene Übersetzung durch Lisa Palmes), Blass-Fotos und Eindrücken einer untergegangenen Epoche fügt sich gut zusammen, weil der Autor keine Partei ergreift. Keine Larmoyanz, keine Früher-war-alles-schlechter-Anklage. Eher Verständnis für die Umstände. Und ganz sicher Sympathie für die Architekten. Weder verurteilt er die gemeinhin als hässlich angesehenen Bauten des real existierenden Sozialismus, noch macht er sich mit den Erschaffern gemein, die unter Parteidruck standen oder sich in ideologischen Widerspruch zum System verstrickten oder schlicht und einfach Kosten- und Zeitplan einhalten mussten. Er beleuchtet, erklärt, lässt die Architekten und Mitstreiter sprechen. Vielleicht haben sich deshalb so viele Leser in Polen angesprochen gefühlt und es innerhalb kurzer Zeit nach Erscheinen 2012 zum Bestseller gemacht. Vielleicht sind die Bauten jener Ära doch nicht so verrufen wie gedacht. Ganz sicher ist es, dass die Leser nach Antworten oder zumindest nach Erklärungen gesucht und einige in den "Kopfgeburten" gefunden haben. Vor einem Jahr ist das Buch in deutscher Fassung beim Berliner Verlag DOM publishers erschienen. Wie wäre es mit einer hiesigen Kopfgeburten für die deutsch-deutsche Nachkriegsmoderne? Denn wer immer sich neugierig, offen, verwundert und suchend auf den journalistisch-architektonischen Weg begibt: der muss sich am Original messen lassen.

"Auf der Schneekoppe ist alles heftiger als anderswo. An 358 Tagen im Jahr weht Wind, an 296 Tagen herrscht Nebel, an 240 Tagen fällt Niederschlagm an 175 Tagen sinkt die Temperatur unter Null." Kapitel "Grund - Folge - Beziehung".

Die Wetterstation auf der Schneekoppe

"Auf der Schneekoppe ist alles heftiger als anderswo. An 358 Tagen im Jahr weht Wind, an 296 Tagen herrscht Nebel, an 240 Tagen fällt Niederschlagm an 175 Tagen sinkt die Temperatur unter Null." Kapitel "Grund - Folge - Beziehung".

Bild vergrößern (Die Wetterstation auf der Schneekoppe)(Abbildung © Filip Springer)
Entworfen von Witold Lipinski und Waldemar Wawrzyniak, erbaut 1967–1974. "Die neue Wetterstation soll billig und bequem sein und so schnell wie möglich stehen ... Doch selbst dann können die Abschlussarbeiten noch nicht beginnen, weil es nach wie vor stürmt und schneit. Endgültig übergeben wird die Wetterstation 1974 – elf Jahre nach der vom Bauherrn geplanten Fertigstellung. Alles in allem kostet das Bauprojekt das Doppelte der vorgesehenen neun Millionen Zloty." Kapitel "Grund - Folge -Beziehung".

Die Wetterstation auf der Schneekoppe

Entworfen von Witold Lipinski und Waldemar Wawrzyniak, erbaut 1967–1974. "Die neue Wetterstation soll billig und bequem sein und so schnell wie möglich stehen ... Doch selbst dann können die Abschlussarbeiten noch nicht beginnen, weil es nach wie vor stürmt und schneit. Endgültig übergeben wird die Wetterstation 1974 – elf Jahre nach der vom Bauherrn geplanten Fertigstellung. Alles in allem kostet das Bauprojekt das Doppelte der vorgesehenen neun Millionen Zloty." Kapitel "Grund - Folge -Beziehung".

Bild vergrößern (Die Wetterstation auf der Schneekoppe)(Abbildung © Filip Springer)
Wyspianskistraße 33, Posen. Entworfen von Jerzy Turzeniecki, erbaut 1972–1974.

Die Mehrzweck- und Sporthalle Arena in Posen

Wyspianskistraße 33, Posen. Entworfen von Jerzy Turzeniecki, erbaut 1972–1974.

Bild vergrößern (Die Mehrzweck- und Sporthalle Arena in Posen)(Abbildung © Filip Springer)
Wojciech-Korfanty-Allee 35, Kattowitz. Entworfen von Maciej Krasinski, Maciej Gintowt. Erbaut 1964–1971.

Die Mehrzweckarena Untertasse

Wojciech-Korfanty-Allee 35, Kattowitz. Entworfen von Maciej Krasinski, Maciej Gintowt. Erbaut 1964–1971.

Bild vergrößern (Die Mehrzweckarena Untertasse)(Abbildung © Kazimierz Seko)
Entworfen von Marek Leykam, erbaut 1949–1952.

Das Allgemeine Warenhaus Rundling in Posen

Entworfen von Marek Leykam, erbaut 1949–1952.

Bild vergrößern (Das Allgemeine Warenhaus Rundling in Posen)(Abbildung © Filip Springer)
in Warschau

Bahnhof Ochota

in Warschau

Bild vergrößern (Bahnhof Ochota)(Abbildung © Boleslaw Miedza)
Platz der Union von Lublin, Warschau. Entworfen von Jerzy Hryniewiecki, Maciej Krasinski, Ewa Krasinski. Erbaut 1962, abgerissen 2006.

Der Supersam in Warschau

Platz der Union von Lublin, Warschau. Entworfen von Jerzy Hryniewiecki, Maciej Krasinski, Ewa Krasinski. Erbaut 1962, abgerissen 2006.

Bild vergrößern (Der Supersam in Warschau)(Abbildung © Archivfoto)
Selbstbedienungsladen in der polnischen Hauptstadt.

Der Supersam in Warschau

Selbstbedienungsladen in der polnischen Hauptstadt.

Bild vergrößern (Der Supersam in Warschau)
Wspólnastraße 62, Warschau. Entworfen von Marek Leykam, erbaut 1952.

Der Sitz des Regierungspräsidiums

Wspólnastraße 62, Warschau. Entworfen von Marek Leykam, erbaut 1952.

Bild vergrößern (Der Sitz des Regierungspräsidiums)(Abbildung © Filip Springer)
Marek Leykam, dessen wirklicher Name Maurycy Jan Lewinski lautete, war im Frankreichfeldzug 1940 Soldat im Großen Infanterieregiment der Polnischen Streitkräfte im Westen (der Armee der polnischen Exilregierung).

Der Sitz des Regierungspräsidiums

Marek Leykam, dessen wirklicher Name Maurycy Jan Lewinski lautete, war im Frankreichfeldzug 1940 Soldat im Großen Infanterieregiment der Polnischen Streitkräfte im Westen (der Armee der polnischen Exilregierung).

Bild vergrößern (Der Sitz des Regierungspräsidiums)(Abbildung © Filip Springer)
Moniuszstraße 33, Breslau. Entworfen von Witold Lipinski, erbaut 1962–1964.

Das Igluhaus

Moniuszstraße 33, Breslau. Entworfen von Witold Lipinski, erbaut 1962–1964.

Bild vergrößern (Das Igluhaus)(Abbildung © Filip Springer)
In Kattowitz. Entworfen von Hendryk Buszko und Aleksander Franta, erbaut 1961.

Die Millennium-Siedlung

In Kattowitz. Entworfen von Hendryk Buszko und Aleksander Franta, erbaut 1961.

Bild vergrößern (Die Millennium-Siedlung)(Abbildung © Filip Springer)
Wilhelm-Szewczyk-Platz 1. Entworfen von Waclaw Klyszewski, Jerzy Mokrzynski, Eugeniusz Wierzbicki. Erbaut 1972, abgerissen 2010/2011. Das Foto zeigt den heutigen Bahnhof.

Der Bahnhof in Kattowitz

Wilhelm-Szewczyk-Platz 1. Entworfen von Waclaw Klyszewski, Jerzy Mokrzynski, Eugeniusz Wierzbicki. Erbaut 1972, abgerissen 2010/2011. Das Foto zeigt den heutigen Bahnhof.

Bild vergrößern (Der Bahnhof in Kattowitz)(Abbildung © Filip Springer)
Das Cover des bei DOM publishers erschienenen Reportagebands.

Kopfgeburten

Das Cover des bei DOM publishers erschienenen Reportagebands.

Bild vergrößern (Kopfgeburten)

Kopfgeburten – Architekturreportagen aus der Volksrepublik Polen

Von Filip Springer. Übersetzt von Lisa Palmes. 210 × 230 mm, 272 Seiten, ca. 100 Abbildungen, Softcover, ISBN 978-3-86922-353-7 (deutsch)

Filip Springer

Jahrgang 1982, Reporter und Fotograf für verschiedene polnische Medien: "Polityka", "Rzeczpospolita" und "Newsweek". Erster Reportageband 2011: "Miedzianka. Historia znikania" ("Kupferberg. Eine Geschichte vom Verschwinden"). Sein zweites Buch "Kopfgeburten" erschien 2012 in Polen unter dem Titel "Źle urodzone" und wurde dort zum Bestseller in mehrfacher Auflage. 2013 folgte eine Biographie des Architektenpaares Zofia und Oskar Hansen. Er lebt und arbeitet in Poznań.

Lisa Palmes

Jahrgang 1975, studierte Polonistik und Germanistik in Berlin und Warschau. Seit 2009 als freie Übersetzerin polnischer Literatur tätig, vor allem Reportagen, Belletristik, Unterhaltung. Sie organisiert literarische Gespräche und Lesungen mit polnischen Autoren. Sie lebt und arbeitet in Berlin.