UNESCO-Welterbe und die Bern-Moderne – Das Bernrauschen
Altstadt
"Bern ist Welterbe, aber wir leben hier auch", fasst Stadtführerin Ursula Arregger die neue Architekturmentalität der Schweizer Hauptstadt zusammen. Wir stehen in der Nähe des berühmten Zytglogge, dem Zeitglockenturm, einem der drei Tore der Altstadt, die mit ihren vielen mittelalterlich-barocken Patrizierhäusern wie eine kunstvoll komponierte Stadtkulisse wirkt. Gleichzeitig ist der große Baldachin über dem Bahnhofsplatz nur wenige hundert Meter vom Zeitglockenturm entfernt und zeigt die Bandbreite Berns: stolzes Historiengemälde mit UNESCO-Abzeichen und zeitgenössische Architekturkunst, die sich nicht versteckt und sich mit Glas-Stahl-Beton-Bauten klar zur Formensprache des 21. Jahrhunderts bekennt. Für viele Berner scheint das ein Spannungsfeld zu sein, für mich als Bernneuling ist es hingegen eine gelungene Kombination aus einer Welterbestätte, die nicht im 15. Jahrhundert erstarrt ist, sondern sich der Modernität des 21. Jahrhunderts zuwendet.
Dafür ist die mittelalterliche Stadtstruktur sogar von Vorteil. Nachdem 1405 der größte Teil Berns niedergebrannt war, erfolgte der Wiederaufbau als Sandsteinstadt. Dem Bau der Laubengänge verdankt Bern seine rund 6 km langen Lauben (Arkaden), eine der längsten gedeckten Einkaufspromenaden Europas. Geschäfte von internationalen Modeketten, Fachläden mit Produkten aus und um Bern und zahlreiche Bars, Cafés, Restaurants beleben das kleinteilige Gefüge, das mit unterschiedlichen zeitgenössischen Funktionen an die heutigen Anforderungen und Bedürfnisse angepasst wurde. Das Altstadtleben in und an den Arkaden brummt. Und als ob das nicht schon genug Lebensqualität wäre, reicht ein Blick aus dem Sandstein-Dasein und dann das: Alpensilhouette und Flussschönheit.
Die knapp 290 km lange Aare ist der wasserreichste Nebenfluss des Rheins und entspringt in den beiden Aargletschern in den östlichen Berner Alpen. Auf dem Gebiet von Bern umfließt sie den mittelalterlichen Stadtkern in einer wahren Flussformvollendung. Dass der Strom an dieser Stelle nicht nur hübsch aussieht, sondern für die Berner existentieller Teil des Sommergenusses ist, zeigen die vielen Badehinweise: ja, in diesem Gewässer darf und soll geschwommen werden. Im offiziellen Stadtplan von Bern wird dem „urbanen Schwimmen“ ein wichtiger Teil gewidmet. Eine Info jedoch wird ausgeklammert: das Aarerauschen. Der Begriff geht auf das Rauschen und Knistern der Kieselsteine zurück, die in ständiger Bewegung sind. Als Schwimmer hört man den Klang, wenn man den Kopf unter Wasser hält. Klingt wie der Bernrausch. Den bekommt man, wenn man die Sinne durch die Arkaden gleiten lässt, wenn man bei einem Espresso an die alten Geheimnisse der mittelalterlichen Gassen denkt und wenn man beschließt, die Tram Nr. 8 zu nehmen. Richtung Brünnen zum Freizeit- und Einkaufszentrum Westside, entworfen von Daniel Libeskind. Wie gesagt: Bern ist Welterbe, aber wir leben hier auch. Das andere, zeitgenössische Leben findet natürlich auch im Westen statt. Aber anders als der feine Altstadt-Habitus.
Westside
Die Fahrt mit der Tramlinie 8 zum Freizeit- und Einkaufszentrum Westside gleicht einer Reise durch die Stadtgesellschaft. Die Pompbauten und Bürohochhäusern rund um den zentralen Bubenbergplatz werden wenige Stationen später von z. T. dreistöckigen Mehrfamilienhäusern im Bescheidenheitsstil abgelöst. Zwischendurch schieben sich Sneakerfachgeschäfte, Tankstellen und Seniorenzentren in den Vordergrund. Am Europaplatz Bahnhof steht der 2015 eröffnete tamilische Hindutempel, hübsch hinter einer Glasfassade drapiert. Spätestens hier ist aus dem Aare-Altstadtmärchen ein bernischer Bollywoodkracher geworden, international und sehr gemischt. Die Architektur hier ist von Wohnmaschinen a la Unité d’habitation geprägt, dazwischen Grünstreifen, Spielplätze, Schnellstraßen und Kunst im öffentlichen Raum – wie am Westside. Das von Daniel Libeskind entworfene Freizeit- und Einkaufszentrum hat über 50 Geschäfte, 14 Lokale, 11 Kinosäle, ein Hotel und ein Erlebnisbad mit 18 Innen- und Außenbecken, dazu Dampfbäder und ein Spa. Von außen ist das 2008 eröffnete Zackenspiel der Mall eine Materialienkollision aus Robinienholz, Glas und Aluminium; eine libeskindliche Vereinigung von Landschaftsarchitektur und Anti-Shopping Center-Ästhetik. In der Innengestaltung gibt es zwar jede Menge geneigte Stützen und Wände, insgesamt kann es jedoch nicht mit der souveränen Vielfalt des Äußeren mit seinen Lichtspalten, den Zerklüftungen und Spitz- und Stachel-Formen mithalten.
Erweiterungsbau des Bernischen Historischen Museums
Bern hat eine zeitgenössisch-architektonische Klammer. Im Westen hat sich Libeskind an dem Mallkomplex Westside dekonstruktiviert. Im Osten brilliert Renzo Piano mit seiner gebauten Wellenskulptur für das Zentrum Paul Klee (siehe unsere ZPK-Reportage hier). Und dazwischen im Museumsviertel am Helvetiaplatz ist ein Findling heruntergekracht. Der von den Bieler Architekten :mlzd entworfene Annex des Bernischen Historischen Museum gleicht an drei Seiten einem wuchtigen, glatt polierten Klotz, der sich trotz Kantigkeit elegant hochschraubt. An der vierten Seite dann die Überraschung: eine Glasfassade, die Umgebung und Altbau reflektiert und dem Trumm was fragiles und ätherisches gibt.
Baldachin
Eine moderne Architekturklammer im Zentrum der Stadt fehlt noch. Dazu geht es mit Tram zurück in die Altstadt zum Bahnhofsplatz. Die Bahnhofplatzüberdachung in der Form eines Baldachins wird gerne als das neue Symbol der Bundeshauptstadt proklamiert. In Anlehnung an die historische Torsituation schwingt sich das Glasdach von drei Metern auf seine maximale Höhe von zehn Metern, bevor sie sich wieder gegen die Straße neigt. Die geschwungene Form der Stahl-Glaskonstruktion stellte hohe Anforderungen an Präzision und Zeitplan. Das auf 8 Trägern abgestützte, 84 Meter lange und 43 Meter breite Glasdach dient als gedeckte Haltestelle des öffentlichen Verkehrs. Das 2008 eröffnete neue Tor war der augenfälligste Abschluss umfangreicher Umbaumaßnahmen. Dazu gehörten die Sanierung der bestehenden Anlagen, die Neugestaltung der Unterführung, der Platzoberfläche und der Verkehrsführung. Mit der transparenten Gestaltung wurde darauf geachtet, dass Burgerspital und Heiliggeistkirche gut sichtbar bleiben und ihre Wirkung als herausragende historische Bauwerke nicht geschmälert wird. Trotzdem wurde kontrovers und lange über das von den drei Architekturbüros marchwell Zürich, BSR Architekten Bern, Atelier 5 Bern entworfene Baldachin diskutiert – Transparenz hin oder her. Als es allerdings vollendet war, freundeten sich die Berner schnell mit der Stahl-Glas-Konstruktion an. Es ist inzwischen tatsächlich das Sinnbild für Bern: wir sind mittelalterliches Welterbe und leben im 21. Jahrhundert. Der Sound von Bern gluckert und plätschert vielleicht nicht ganz so schnell wie die Aare. Vielmehr gleicht er einem wohltuenden, satten Klang, der neugierig macht, beständig und damit sehr bernisch ist.
Unsere Recherchereise wurde von Bern Tourismus und Sky Work Airlines unterstützt. Wir danken der Fotokünstlerin Bettina Cohnen für Ihre Bilder.
Bern
Hauptstadt der Schweiz und Hauptort des gleichnamigen Kantons. Knapp 142.000 Einwohner (Nov. 2016), gehört neben Zürich, Genf, Basel und Lausanne zu den größten Gemeinden der Schweiz. Mit dem Umland insgesamt: 356.000 Einwohner. Fläche: 51,6 Quadratkilometer. Bern wurde 1191 im Auftrag des Herzog Berchtold V. von Zähringen gegründet. 1983 wurde die Altstadt in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen. Die 6 km langen historischen Arkaden machen die Altstadt zu einer der längsten überdachten Einkaufspromenaden Europas. Das Wappentier der Stadt ist der Bär, eins der Wahrzeichen der Bärengraben, der 2009 in einen großen Bärenpark umgewandelt wurde. Mehrere Veranstaltungen zeigen Bern als Kunst- und Kulturstadt, z. B. das Internationale Jazzfestival (11.3.–20.5.2017), der 2. Berner Klassik-Tag (21.6.2017), das Ton- und Lichtspektakel „Rendez-vous Bundesplatz“, den jährlich über eine halbe Million besuchen (20.10.–3.12.2017) und das Zibelemärit (Zwiebelmarkt), ein traditionelles Volksfest ganz im Zeichen der Zwiebel (27.11.2017).
Bern Tourismus
Wir empfehlen eine Themenführung durch die Altstadt, die Bern Tourismus organisiert, z. B. die Zytglogge-Führung oder auch die Treppen- und Matteführung. Wer sich gerne gruselt, sollte bei „Gespenstisches Bern“ mitgehen. Weitere Informationen per E-Mail citytours@bern.com und Tel. +41 31 328 12 12.
SkyWork Airlines
Die 2010 gegründete SkyWork Airlines AG hat ihren Heimatstandort am Bern Airport. Die Airline mit 110 Angestellten fliegt momentan acht Destinationen an, darunter u. a. Direktflüge Bern-Berlin, Bern-Hamburg, Bern-München. Ab März wird das Netz auf 18 Destinationen ausgebaut. SkyWork setzt zunehmend auf Saab 2000-Flugzeuge, die aktuell schnellsten Turboprop-Passagierflugzeuge auf dem Markt, zudem bequem und mit Beinfreiheit – was wir nach unseren Flügen gerne bestätigen.
Westside
Adresse Shopping- und Erlebniscenter Westside, Riedbachstrasse 100, 3027 Bern-Brünnen, Tel. +41 31 556 91 11, E-Mail: info@westside.ch. Verschiedene Öffnungszeiten für Shopping, Bernaqua, Kinos, siehe Website.
Bernisches Historisches Museum
Adresse Bernisches Historisches Museum und Einstein Museum: Helvetiaplatz 5, CH-3005 Bern. Tel. +41 31 350 77 11. info@bhm.ch. Öffnungszeiten: Di–So 10–17 Uhr, Mo geschlossen.
Daniel Libeskind / Studio Libeskind
Geboren 1946 in Łódź, Polen, ist ein US-amerikanischer Architekt und Stadtplaner. 1970 schloss er sein Architekturstudium an der Cooper Union for the Advancement of Science and Art in New York City ab, und 1972 ein Master-Studium in Architekturgeschichte und -theorie an der School of Comparative Studies an der University of Essex ab. Er ist bekannt für seinen multidisziplinären Ansatz und einen kritischen Diskurs in der Architektur. Zu seinen Hauptwerken gehören kulturelle Einrichtungen, wie das Jüdische Museum Berlin, das Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück, das Denver Art Museum und das Imperial War Museum North in Manchester, aber auch Landschafts- und Stadtplanungen sowie Entwürfe von Ausstellungen, Bühnenbildern und Installationen. Studio Libeskind ist ein weltweit operierendes Architekturbüro mit Sitz in New York City, USA und einer Niederlassung in Zürich, Schweiz. Es wurde 1989 von Daniel und seiner Partnerin Nina Libeskind in Berlin, Deutschland gegründet, um den Bau des Jüdischen Museums Berlin umzusetzen. Nachdem er im Februar 2003 die Architekturausschreibung zum Neubau des World Trade Centers gewonnen hatte, verlegte er den Hauptsitz nach New York City, wo er auch heute lebt und arbeitet.
:mlzd
Das Kürzel steht für „mit Liebe zum Detail“. Das Büro wurde 1997 in Biel gegründet und hat mittlerweile über 40 Projekte realisiert. Zu den wichtigsten Arbeiten zählen die Neugestaltung des Präsidentenraums der UNO-Vollversammlung in New York (2004), die Erweiterungen des Historischen Museums Bern (2009) und des Stadtmuseums in Rapperswil (2011). :mlzd beschäftigt fast 30 Mitarbeiter.
Bettina Cohnen
Geboren 1973 in Bielefeld, Fotokünstlerin. Lebt und arbeitet in Berlin. Sie studierte Bildende Kunst an der Fachhochschule Hannover und am California Institute of the Arts (CalArts) in Los Angeles. Ein Stipendienaufenthalt führte sie außerdem nach New York. 2017 wird ihre Arbeit im Rahmen der Ausstellung „Fortsetzung jetzt!“ des Vereins der Berliner Künstlerinnen 1867 in der Galerie Alte Kaserne in der Zitadelle Spandau gezeigt.
THE LINK Gastrotipps x 3
1. Kornhauskeller: speisen in einem majestätischen Gewölbe mit opulenten Fresken. Hier wird italienische Küche und Berner Spezialitäten serviert. Unbedingt vorab reservieren. Adresse: Kornhausplatz 18, CH-3000 Bern. Tel. +41 31 327 72 72. – 2. Restaurant Rosengarten: mediterrane Küche mit Panoramablick. Wer keine Zeit für eine Mahlzeit hat, sollte wenigstens für einen Espresso Platz nehmen. Adresse: Alter Aargauerstalden 31b, CH-3006 Bern. Tel. +41 31 331 32 06. – 3. Adrianos: Kaffeeladen und Bar mit gutem Baristahandwerk und leckeren Snacks und Süßigkeiten, z. B. Brownies und Tartufo. Adresse: Theaterplatz 2, 3011 Bern. Tel: +41 31 318 88 31. shop@adrianos.ch.