Weissenhofsiedlung – Maßarbeit der Moderne
Auf Reisen / Reportage:Das Weissenhofmuseum im Haus Le Corbusier
„Wenn Le Corbusier eines besonders gut konnte, dann das!“, beschreibt Anja Krämer die Aussicht, als wir die Dachterrasse des Weissenhofmuseums betreten, dem Doppelhaus von Le Corbusier und seines Cousins Pierre Jeanneret. Mehr Dachlandschaft als schnöde Terrasse wirkt die Fläche großzügig und modern, das Grün und die Gerade ergänzen einander. Die Pergola mit ihren Stützen scheint den Blick auf das Tal des Stuttgarter Ostens und das Zentrum zu unterteilen und zu leiten. Ein perfekt inszenierter Panorama-Rahmen.
Viele Jahrzehnte war es umgekehrt: Architektur-Aficionados und Moderne-Fans blieb nur der Blick von außen, denn die Häuser der Weissenhofsiedlung sind bis heute noch bewohnt und daher öffentlich nicht zugänglich. Nach einer mehrjährigen und umfassenden Instandsetzung des Doppelhauses der beiden schweizerisch-französischen Architekten, einem der bedeutendsten Gebäude der Siedlung, wurde es im Herbst 2006 als Museum eröffnet. Es dient seitdem als Plattform und Informationszentrum der Weissenhofsiedlung in der damals zahlreiche Berühmtheiten Projekte umsetzen konnten, darunter Mies van der Rohe, Walter Gropius und Hans Scharoun. Seit Juli 2016 zählt das Doppelhaus in der Rathenaustraße 1 und 3 sowie das Haus Citrohan, das benachbarte Einfamilienhaus im Bruckmannweg 2 zum Weltkulturerbe. Zeitgleich nahm die UNESCO 17 architekturhistorisch herausragende Bauten von Le Corbusier in Frankreich, Belgien, Argentinien, Japan, Indien und der Schweiz in die Liste des Welterbes auf.
Wer das Doppelhaus besucht, macht eine Zeitreise in die 1920er-Jahre mit all seinen technischen, sozialen und ästhetischen Umbrüchen. Die linke Haushälfte zeigt Entstehung, Geschichte und Protagonisten der Weissenhofsiedlung und schafft die Gratwanderung zwischen Museumsbetrieb und behutsamen Verweisen auf den Grundriss, der seit den 1930er-Jahren einschneidend verändert wurde. Konzept, Leitsystem und Gestaltung im Museum verantwortete das renommierte und mehrfach ausgezeichnete Architekturbüro space4 aus Stuttgart. Le Corbusiers „Fünf Punkte zu einer neuen Architektur“ war für das Stuttgarter Büro Vorbild und Anleitung zugleich. Historische Einbauten nahmen sie räumlich auf und interpretierten sie als „gläserne Informationsmaschine“ neu. „Dabei überlagern sich die ursprüngliche Architektur, die Umbauten der Nachkriegszeit und die Museumsarchitektur gegenseitig und machen so die konzeptionellen Spannungen räumlich erfahrbar“, so die Architekten.
"Fünf Punkte zu einer neuen Architektur"
War man in der linken Haushälfte noch in der Informationsmaschine mit Verweisen auf die Schichten der Vergangenheit, bedeutet die rechte Haushälfte den Sprung in die Zwanziger. Das Exponat ist das Haus und so wie es 1927 aussah, als die Ausstellung "Das Wohnen" des Werkbund auf dem Weissenhof eröffnet wurde. Die originale Raumaufteilung, die Farbgebung und ein Teil der Einrichtung konnte wiederhergestellt werden. Viele Besucher, so Museumsleiterin Krämer, wären von dem kräftigen Kontrast überrascht. Dominiert in der Ausstellungsmaschine links das Reduziert-Nüchterne ist es in der rechten Momentaufnahme farbenfroh, ohne dass Le Corbusier Abstriche von seinem Konzept machte. So lässt sich der Hauptraum hier wie das Abteil eines Zuges vom Wohnzimmer in Schlafkabinen umbauen. Seine "Fünf Punkte zu einer neuen Architektur" lassen sich in dieser Hälfte besonders gut ablesen: freie Grundriss- und Fassadengestaltung, sichtbare Stahlstützen, lange Fensterbänder und der große Dachgarten – mit dem Panorama-Rahmen.
Weissenhofsiedlung
Das Weissenhofmuseum gehört zur weltbekannten Weissenhofsiedlung, die 1927 im Rahmen einer Bauausstellung entstand. Zusammen mit dem Bauhaus und der De Stijl-Bewegung in den Niederlanden beeinflusste die Architektur, die Innengestaltung und das Ganzheitliche der Weissenhofsiedlung die aufkommende, moderne Architektur. Über die beiden Gebäude von Le Corbusier hinaus zählen die Bauten der Siedlung auf dem Stuttgarter Killesberg zu den wichtigsten Zeugnissen der Klassischen Moderne. Sie entstand 1927 im Rahmen der Ausstellung „Die Wohnung“ des Deutschen Werkbundes. 17 Architekten des Neuen Bauens präsentierten hier ihre Lösungen für das neue Wohnen des Großstadtmenschen. Das „Best of“ der modernen Architektur des 20. Jahrhunderts war vertreten, unter anderem Mies van der Rohe, Walter Gropius, Hans Scharoun, Ludwig Hilberseimer, J.J.P. Oud, Bruno und Max Taut. Ihre Entwürfe waren Prototypen, die Ästhetik, Funktionalität und Materialität verbanden. Die Nationalisozialisten verachteten die Gradlinigkeit und verschmähten die Siedlung wegen der weißen Dachterrassen als „Araberdorf“. Der von den Nazis geplante Abriss wurde nicht ausgeführt, trotzdem wurden Teile des Areals während des Zweiten Weltkrieges zerstört und danach nicht wiederaufgebaut bzw. beschädigte Bauten abgerissen. 1958 wurde die Siedlung unter Denkmalschutz gestellt. Von den 33 Bauten sind heute noch 11 Gebäude original erhalten und bis auf das Doppelhaus und Museum in der Rathenaustraße sind alle Häuser nicht öffentlich zugänglich.
Dass die Entscheidung des Vereins „Freunde der Weissenhofsiedlung“ für die Umwandlung des Doppelhauses zum Weissenhofmuseum wichtig und richtig war, zeigt sich an der Resonanz. Die Museumswerdung dauerte vier Jahre, seit 2006 betreibt der Verein das „Weissenhofmuseum im Haus Le Corbusier“. Seit der Aufnahme des Doppelhauses und des Einfamilienhaues Citrohan von Le Corbusier in das UNESCO-Welterbe habe sich das Interesse deutlich gesteigert, so die Museumsleiterin Anja Krämer. Von durchschnittlich 23.000 auf deutlich über 30.000, ein Drittel kämen aus dem Ausland, so die Schätzung. Die Bauhistorikerin Krämer ist schon seit 1999 mit der Weissenhofsiedlung verbunden, zunächst im Beirat des Freundeskreises und seit der Eröffnung des Museums deren Leiterin. Dass sie sich für das Werk von Le Corbusier und Pierre Jeanneret und der anderen Berühmtheiten so begeistern kann, ist für die Vermittlung der Gedanken des Werkbunds und des Neuen Bauens mehr als hilfreich. Oftmals kämen auch skeptische Gäste, die mit der Moderne nicht so viel anfangen könnten. Nach dem Besuch und den Erklärungen jedoch hätte sich das bei vielen geändert. Mehr kann man sich für das Erbe der Klassischen Moderne nicht wünschen.
Weissenhofmuseum im Haus Le Corbusier
Rathenaustraße 1-3, 70191 Stuttgart. Di.–Fr.:11–18 Uhr, Sa., So., feiertags: 10–18 Uhr, montags geschlossen. Telefon: +49 (0)711 257 91 87
Fünf Punkte der Architekur
Das Doppelhaus (und heutige Museum) ist gemäß der Fünf Punkte Le Corbusiers gestaltet, die er für die Bauausstellung des Werkbund erstmals schriftlich präsentierte: ein Stützensystem aus Pilotis (sichtbare Pfeilerkonstruktion) ermöglicht eine freie Grundriss- und Fassadengestaltung mit Längsfenstern und dem Dachgarten. Durch die Sanierung und Modernisierung des Gebäudes an der Rathenaustraße 1 und 3 konnte Le Corbusiers Entwurf für transformierbare Räume wiederhergestellt werden.
Weissenhofsiedlung und die 17 Architekten
Das auch als Werkbundsiedlung bekannte Areal auf dem Killesberg wurde 1927 vom Deutschen Werkbund und von führenden Architekten des Neuen Bauens errichtet. Die Leitung hatte Ludwig Mies van der Rohe. Das avantgardistische, schnörkellose Bauprogramm für Großstadtmenschen wurde von 17 Architekten umgesetzt, die heute zu den wichtigsten Meistern der Moderne zählen: Le Corbusier, Walter Gropius und Hans Scharoun. Jeder der Architekten entwarf sein eigenes Haus. Das Flachdach war eine Vorgabe. Alle 17 Architekten: Peter Behrens (1868–1940), Victor Bourgeois (1897–1962), Richard Döcker (1894–1968), Josef Frank (1885–1967), Walter Gropius (1883–1969), Ludwig Hilberseimer (1885–1967), Pierre Jeanneret (1896–1967), Le Corbusier (Charles-Edouard Jeanneret-Gris, 1887–1965), Ludwig Mies van der Rohe (1886–1969), Jacobus Johannes Pieter Oud (J.J.P. Oud, 1890–1963), Hans Poelzig (1869–1936), Adolf Rading (1888–1957), Hans Scharoun (1893–1972), Adolf Gustav Schneck (1883–1971), Mart Stam (1899–1986), Bruno Taut (1880–1938), Max Taut (1884–1967) – meist Mitglieder der Gruppe "Der Ring", eine Vereinigung führender Architekten des an die Moderne angelehnten Neuen Bauens in der Weimarer Republik. Die Gruppe wurde 1926 in Berlin gegründet und musste 1933 nach der Machtergreifung der Nazis aufgelöst werden.
Werkbund
Der Deutsche Werkbund e. V. (DWB) wurde am 6.10.1907 als wirtschaftskulturelle "Vereinigung von Künstlern, Architekten, Unternehmern und Sachverständigen" auf Anregung von Hermann Muthesius, dem Heilbronner Politiker Friedrich Naumann und Henry van de Velde in München gegründet. Der heutige Sitz ist in Darmstadt. Der Verein zielte auf eine "Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk, durch Erziehung, Propaganda und geschlossene Stellungnahme zu einschlägigen Fragen". Die Ausstellung "Kölner Werkbundausstellung" 1914 war die erste Leistungsschau des Vereins. Danach brachte er die Zeitschrift Die Form heraus. 1927 folgte die Ausstellung "Die Wohnung" – industrielle Formgebung in Stuttgart, 1929 die Werkbundausstellung Wohnung und Werkraum (WuWa) in Breslau sowie weitere Ausstellungen in Paris und Wien. 2007: Ausstellungen und Sonderveranstaltungen zu 100 Jahre Werkbund.