Funktionalismus im Auftrag von Tomas Bata – Der optimale Ort
Auf Reisen / Perlen der Provinz / Reportage:Von der Schuhmacherwerkstatt zur Fabrikstadt
Je höher es geht, desto deutlicher wird die Stadtwerdung von Zlín und höher als jetzt geht es nicht. Denn Dr. Zdeněk Pokluda und ich stehen auf dem einst höchsten Gebäude der damaligen Tschechoslowakei. Hier entstand eines der ersten Hochhäuser in Europa. Hier, das ist das Verwaltungsgebäude Nr. 21, auch als Bata Wolkenkratzer bekannt. Der Historiker Pokluda hat lange als Direktor des Staatsdistriktarchivs in Zlín gearbeitet und forscht zur tschechischen Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Sein Fachgebiet ist die Firma Bata, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zum größten Schuhunternehmen der Welt aufstieg und dessen marktbeherrschende Stellung eng mit dem Geschäftsmann, Industriellen und Aufsteiger Tomáš Baťa (dt. Tomas Bata) zusammenhängt. Pokluda bezeichnet Bata als „Selfmademan, da sein Name fast schon Symbolcharakter besitzt.“ Denn mit Bata erhielt Zlín „den Ruf einer Stadt der Gärten und der modernen Architektur, deren Antlitz sie sich bis heute bewahrt hat.“
Dieses funktionalistische Gesicht, das nur 100 km von Brünn, der anderen wichtigen Stätte des tschechischen Funktionalismus entfernt ist, erklärt der gebürtige Zlíner von der Dachterrasse des Hochhauses Nr. 21. Er weist auf die stringente Struktur der Werksanlage hin mit der von weitem sichtbaren Nummerierung, auf die Arbeitersiedlungen, die rund um das Werk in mehreren Abschnitten entstanden und auf die Solitäre wie die Markthalle, das mehrstöckige Warenhaus, das Große Kino, die Wohnheime. Was ebenfalls auffällt, ist die Topographie der Stadt mit Anhöhen und der langgezogenen Senke, durchschnitten von großen, mehrspurigen Straßen. Von oben betrachtet durchziehen die Straßen Gahurova und die Nr. 49 bzw. Tomáše Bati den Ort wie logische, lineare Lösungen. Sie passen damit ideal zu der Bata’schen Industriebackstein-Architektur. Serielle Effizienz und auf Zuwachs gepolte Produktivität wurden in den Herstellungsprozessen als auch in der Bauweise der Fabriken miteinander verzahnt.
Die Tomas Bata-Story fängt 1894 an, als er zusammen mit seinen Geschwistern Antonin und Anna eine Schuhmacherwerkstatt gründet. Diese leitet er später alleine und baut den Betrieb zu einem Schuhimperium auf, das schließlich einem Mischkonzern gleichen wird u. a. mit Chemie-, Lebensmittel- und Textilproduktion sowie einem Bereich für die Gummi- und Papierherstellung. In der Hochphase der 1920er- und 1930er-Jahre beschäftigte die Firma weltweit über 60.000 Menschen.
Nach Aufenthalten in den USA bei dortigen Fabrikanlagen begann er mit dem Aufbau der Gebäude nach amerikanischem Muster. Ein wichtiges Merkmal war die Standardisierung von 60 x 20 Meter, drei Etagen, unverputztem Mauerwerk und Decken und Säulen aus Holz. 1918 kam ein weiterer Typ hinzu: 80 x 20 Meter, fünf Etagen, Stahlsäulen. Eine eigens für das Eiltempo der Bauarbeiten hochgezogene Ziegelei beschleunigte die Bauzeiten um ein Vielfaches. 1927 wurde ein einheitliches System aus Stahlbetonskeletten mit einer Spannweite von 6,15 x 6,15 Meter, die mit Hilfe von verschiebbarer Schalung realisiert wurde. Die unverputzte Ziegelausmauerung mit den großen, geteilten Fenstern wurde zum Markenzeichen des einheitlichen Erscheinungsbildes der Zlíner Bata-Architektur.
Die Baumeister von Bata-Zlín
Die typisierten Industriebauten wurden schachbrettartig angelegt, zu größeren Ensembles zusammengefasst und waren miteinander über Transportanlagen verbunden. Man senkte mit der Standardisierung die Kosten bei zugleich schnelleren Bauzeiten. Die Errichtung eines fünfstöckigen Gebäudes mit einem Grundriss von 80 x 20 Meter dauerte von der Planung, Grundsteinlegung bis zur Fertigstellung gerade einmal fünf Monate. Architekten waren maßgeblich an der konstant betriebenen Entwicklung beteiligt, darunter waren Jan Kotěra (1871–1923), František Lydie Gahura (1891–1958) und Vladimír Karfík (1901–1996). Alle drei stehen stellvertretend für die verschiedenen Phasen der Bata-Ära. So entwarf der Otto Wagner-Schüler Kotěra aus Brünn die ersten Wohnsiedlungen und beeinflusste als Hochschulllehrer die nächste tschechische Architektengeneration, als er z. B. Bohuslav Fuchs unterrichtete.
Der gelernte Stuckateur Gahura studierte zunächst Bildhauerei, dann Architektur beim slowenischen Baumeister Josef Plečnik und von 1919 bis 1923 bei Jan Kotěra. Gahuras Architektur in Zlín ist durch modulare, transparente Skelettbauweise geprägt. Er entwarf das Rathaus (1924), Bata-Krankenhaus (1927), das Bata-Warenhaus (1932) und das Bata-Denkmal (1933).
Der in Slowenien geborene und in Brünn verstorbene Architekt und Pädagoge Vladimír Karfik studierte u. a. bei Kotěra, arbeitete im Pariser Architekturbüro von Le Corbusier und später bei Frank Lloyd Wright. Als er 1930 in die Tschechoslowakei zurückkehrte, wurde er Leiter der Planungsabteilung der Bata-Werke in Zlín bis 1946. In der Stadt realisierte er Schulen, Wohnhäuser, eine evangelische Kirche (1937) und sein berühmtestes Projekt: das Verwaltungsgebäude Nr. 21 (1939).
Zlín damals und heute
Das Tomas-Bata-Denkmal und das Hochhaus Nr. 21 erscheinen wie die Essenzen des Zlíner Funktionalismus. Stahlbeton und Glas: mehr benötigte der aus der Zlíner Region stammende Gahura nicht für den Bau des Denkmals für den 1932 bei einem Flugzeugunglück verstorbenen Tomas Bata. Das lichte Transparenzgebäude scheint wie eine Spiegelung der Eigenschaften des Bata-Konzerngründers zu sein. Es ist klar und auf eine feine, schlichte und kantige Form komprimiert. Die Glas-Architektur ist außergewöhnlich, spektakulär hingegen ist die städtebauliche Integration des Denkmals in den Gahura Prospekt, einer Grünanlage, die den Gartenstadt-Charakter der Bata-Pläne repräsentiert. Das Denkmal thront auf dem höchsten Punkt des Grünzugs mit einem weiten Blick über Zlíns Struktur und Höhen.
Das von Karfík entworfene Hochhaus zählt zu den wichtigsten Werken der tschechoslowakischen Moderne. Es hat sechzehn Stockwerke, ist 77 Meter hoch und war lange das höchste Gebäudes des Landes. Wie bei den Produktionsgebäuden basiert es auf dem gleichen modularen System mit 6,15 Meter x 6,15 Meter. Eine Etage misst 80 x 20 Meter. Die Tragkonstruktion ist aus Stahlbeton, die Außenwand besteht aus den charakteristisch-geteilten Fenstern und der Ziegelausfachung. Den Zweiten Weltkrieg überstand das Verwaltungsgebäude der Bata-Werke unbeschadet. 2004 wurde es saniert und ist nun der Sitz des Finanz- und des Kreisamtes der Region Zlín.
Diese Umnutzung steht auch für den Wandel nicht nur des Bata-Areals, sondern der ganzen Stadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten die neuen, kommunistischen Herrscher die Familie Bata als Ausbeuter und Feindes des Volkes dar. Das Nachfolgeunternehmen ging Bankrott. Die Bata-Erben in Kanada dagegen waren mit dem Neustart erfolgreich. Heute ist Bata ein Konzern mit 30.000 Beschäftigten mit Sitz in Lausanne, Schweiz.
Zlín heute lebt und arbeitet mit dem Bata-Gen. Zahlreiche Gebäude auf dem Werksgelände wurden und werden saniert und umgenutzt. Es gibt Büros, Gastronomie, die Universität ist dazugekommen, Einrichtungen der Forschung und das 14/15 Bata Institut (Entwurf: Jiří Voženílek, Fertigstellung: 1949). Nach einem umfangreichen Umbau (durch Centroprojekt) sind eine Galerie, Bibliothek und das Museum Südostmähren in die Produktionsgebäude 14 und 15 eingezogen.
Das 1931 fertiggestellte und von Gahura entworfene Kaufhaus am Platz der Arbeit wird seit einiger Zeit umgebaut. Die Fassade strahlt hell, so dass besonders die oberen, sich verkleinernen Fensterreihen zur Geltung kommen. Am Fuße des zehnstöckigen Warenhauses ist 2013 der Gahura-Prospekt vom Zlíner Architekturbüro Ellement umgestaltet worden. Die Idee der Architekten Jitka Ressová, Hana Maršíková und Jan Pavézka: Klarheit und Gradlinigkeit mit Betonung der Aufenthaltsqualität. Dafür vertieften sie die Gehwege und schufen mit den Betonelementen zugleich Sitzgelegenheiten.
Von hier zeigt sich, dass die Stadt um ihr bedeutendes und europaweit einmaliges Ensemble-Erbe weiß. Zugleich stellt sie sich der neuen Zeit, das ein elliptisches Glas-Metall-Jahrhundert zu werden scheint in Form des Kultur- und Universitätszentrum (KUC), entworfen von Eva Jiřičná (*1939). Die gebürtige Zlínerin und mehrfach ausgezeichnete Architektin lebt und arbeitet in London. Für das KUC kehrte sie in ihre Geburtstadt zurück und schuf mit ihrem 1999 gegründeten Büro A.I. Design zwei große, elliptische Körper, die zusammen ein V bilden und den Vorplatz dadurch zur einladenden Geste gen Bata-Areal machen. Ein weiteres Merkmal ist die dornenartige Dachkrone des Kulturzentrums und die Glas-Paravents an der Fassade.
Diese Formen und Materialien: gab es Kontroversen in der Stadt, wurde protestiert?
"Nein, das nicht", so Pokluda, der Bata- und Zlínkenner. "Es wurde engagiert diskutiert, aber den Menschen hier ist bewusst, dass sie sich der neuen Zeit nicht verschließen können."
Er spricht über die Abwanderung der Jugend nach Prag, den Strukturwandel der Region und wie man hier mit dem funktionalistischen Erbe umgeht – auf eine zeitgemäße Art und mit Achtung vor der Bata-Ära. Dazu passt, dass an der gleichen Stelle eine Gahura-Schule stand, ebenfalls mit mehreren Baukörpern, die einen sich zur Stadt öffnenden Vorplatz formen. Bedachter und zugleich gegenwartsnaher kann eine Stadt ihrem funktionalistischen Erbe nicht begegnen.
Unsere redaktionell unabhängige Recherchereise wurde organisiert und ermöglicht durch die Tschechische Zentrale für Tourismus – CzechTourism und von der Ostmährischen Touristischen Zentrale.
Zlín
Erstmalige urkundliche Erwähnung 1322. Zlin war im Mittelalter ein Ort des Handels und Handwerks, seit dem 16. Jahrhundert spielte die Schuhmacherzunft eine wichtige Rolle. Heute hat die Stadt knapp 80.000 Einwohner und ist das Industriezentrum der Region Zlínský kraj in Mähren. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wandelte sich das Stadtbild drastisch. In Folge der Firmengründung einer Schuhmacherwerkstatt von Tomas Bata mit seinen Geschwistern Anna und Antonin und der steten Vergrößerung mit anschließender Massenproduktion wurden in kurzer Zeit Wohnsiedlungen mit Ein- und Mehrfamilienhäusern, Produktionsstätten, Waren- und Krankenhäuser sowie weitere Gebäude entworfen und gebaut. Wichtige Architekten in den 1910er- bis 1930er-Jahren waren Jan Kotěra, Vladimír Karfík und František Lydie Gahura. Seitdem dient Zlín als Beispiel einer Stadt mit funktionalistischer Gartenstadtarchitektur mit dem auf Effizienz angelegten Bata-Werksgelände. Hier war alles typisiert, standardisiert und optimiert. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg knüpften die Architekten an die Bata-Hochphase an. Von 1949–1990 hieß die Stadt Gottwaldov (nach dem Präsidenten Klement Gottwald). Zlín ist ein wichtiger Standort der tschechischen Filmindustrie, eine der produktivsten Zeiten war in den 1960er-Jahren. 2001 wurde die Tomas-Bata-Universität gegründet.
Tomáš Baťa (Tomas Bata)
1876–1932, geboren in Zlín, gestorben in Batóv. Tschechischer Unternehmer und Gründer des Bat’a-Konzerns, der auch heute noch der weltgrößte Schuhproduzent ist. Er entstammte einer alteingesessenen Familie von Schuhmachern. Gründung der Firma 1894 zusammen mit seinen Geschwistern, danach alleiniger Unternehmensleiter. Zlín wurde der Standort der tschechischen, industriellen Revolution und zum Zentrum der neuen Ideen von Bata, der die Stadt im Zuge der Firmenexpansion und der Massenproduktion zur ersten funktionalistischen Stadt Europas gestalten ließ. Der Patriarch, Philantrop und Workaholic setzte früh auf die Effizienz der seriellen Fabrik- und Industriearchitektur, indem er die Standardisierung der Bauten förderte und ein engmaschiges Transport- und Kommunikationsnetz einführte. Er starb 1932 bei einem Flugzeugunglück. Die Bata-Erben verließen die Tschechoslowakei und starteten erfolgreich in Kanada neu.
Jan Kotěra
1871–1923. Der in Brünn geborene Architekt, Designer und Grafiker gilt als Wegbereiter der tschechischen Moderne. Studium bei Otto Wagner in Wien. Wichtige Kotěra-Projekte sind unter anderem das Haus Peterka (1900) am Prager Wenzelsplatz und das Ostböhmische Museum Hradec Králové (1912).
František Lydie Gahura
1891–1958. Tschechischer Architekt, ausgebildeter Stuckateur mit Studium der Bildhauerei in Prag und der Architektur bei Josef Plečnik und 1919–1923 bei Jan Kotěra. Gahura war bis 1946 Firmenarchitekt von Bata. In Zlín hat er u. a. das Rathaus (1923), Warenhaus, das Große Kino (beide 1932), das Tomas-Bata-Denkmal sowie das Bata Krankenhaus (1936) entworfen und umgesetzt.
Vladimir Karfík
1901–1996. Der in Slowenien geborene Architekt wurde einer der wichtigsten Baumeister der tschechischen Moderne. Er studierte u. a. in Prag bei Jan Kotěra. 1925 arbeitete er im Pariser Architekturbüro von Le Corbusier, danach in den USA im Büro von Frank Lloyd Wright. In Zlín wurde er Leiter der Planungsabteilung der Bata-Werke, wo er bis 1946 arbeitete. In Bratislava war er von 1946–1971 Hochschullehrer für Architektur. In Malta war er ebenfalls an der Universität tätig. Anschließend ließ er sich in Brünn nieder. Zu seinen wichtigsten Bauten zählen der Bata-Verwaltungsgebäude Nr. 21, die Bata-Fabrik in Essex, England sowie zahlreiche öffentliche und private Gebäude
Eva Jiřičná
*1939 in Zlín. Die tschechisch-britische Architektin und Designerin lebt und arbeitet in London und Prag, wo sie 1999 mit Petr Vagner das Büro A.I. Design gründete. Eins ihrer bekanntesten Werke ist die Orangerie (1999) auf der Prager Burg, ein 90 Meter langer, halbzylindrischer Glasbau. Weitere Projekte: Hotel Josef (2000) und Hotel Maximilian (2004, beide in Prag) sowie das Kultur- und Universitätszentrum in ihrer Geburtstadt. Jiřičná wird zu den wichtigsten zeitgenössischen Architekten aus Tschechien gezählt und wurde mehrfach ausgezeichnet.
THE LINK Lesetipp
"Building an Industrial and Garden City (1906–1943)" von Dr. Zdeněk Pokluda, Paperback mit 36 Seiten, 27 x 22 x 1 cm. ISBN-10: 8090589626, ISBN-13: 978-8090589629. Eine kompakte Übersicht über die Stadtentwicklung von Zlín mit Fokus auf die Realisierung der Gartenstadt-Pläne der Architeken Karfík, Lorenc und Gahura.