Neues Bauen in Karlsruhe – Wenn Licht und Luft fließen
Reportage:Dammerstock - Mustersiedlung des Neuen Bauens
„1974 entschied Erich Rossmann sein Architekturbüro von seinem nahe gelegenen Wohnhaus in das ehemalige Waschhaus zu verlegen“, erklärt Herbert Serr, Architekt und Partner bei Rossmann + Partner. „Es war sozusagen das Initial zur Rettung des gesamten Ensembles, da sich zu diesem Zeitpunkt niemand für die Instandhaltung der Anlage interessierte.“
Aus heutiger Sicht kaum vorstellbar. Die denkmalgeschützte Dammerstock-Siedlung zählt zu den bedeutendsten Zeugnissen des Neuen Bauens in Deutschland. Das Karlsruher Büro von Rossmann + Partner ist seitdem ein begehrter Anlaufpunkt für Architekturinteressierte, wie Serr versichert: „Vielleicht ist es in den vergangenen Jahren sogar noch etwas mehr geworden.“ Das zentrale Waschhaus und Fernheizwerk von Otto Haesler bildeten zusammen mit der von ihm entworfenen Gaststätte das leuchtende Zentrum der Anlage. Haesler hatte bereits einige Jahre zuvor mit seinen innovativen Zeilenbauten im niedersächsischen Celle für Aufsehen gesorgt.
Das Projekt Dammerstock war damals „revolutionär“. Zur Linderung der Wohnungsnot sollte hier ein Jahr nach der avantgardistischen Stuttgarter Weissenhofsiedlung bezahlbarer Wohnraum für die breiten Bevölkerungsschichten entstehen, mit mehr Tageslicht und wesentlich besseren Sanitäranlagen als zu jener Zeit üblich. Den Masterplan entwickelte Walter Gropius. Kurz zuvor hatte er seinen Posten als Bauhaus-Direktor niedergelegt. Vorausgegangen war ein „Wettbewerb für eine neuzeitliche Mustersiedlung“, den die Stadt Karlsruhe und der damalige Bürgermeister Hermann Schneider auf der Suche nach innovativen Lösungen für die Wohnraumknappheit 1928 ausgeschrieben hatte. Die Einwohnerzahl der Fächerstadt war seit der Jahrhundertwende rasant gestiegen.
Gropius hatte den Architektenwettbewerb für sich entschieden. Otto Haesler wurde Zweiter. In der Jury saßen prominente Vertreter des Neuen Bauens wie Mies van der Rohe, Paul Schmitthenner und der Frankfurter Stadtbaurat Ernst May. Als künstlerischer Leiter des Projektes legte Gropius die Leitlinien und Gestaltungsvorgaben für alle Bauten der Siedlung fest: einfache Baukörper mit Flachdächern, gleiche Geschosshöhen, vereinheitlichte Tür- und Fensterformate, sowie weiße Fassaden und graue Sockel. Allen Bauten sollten Gärten zur Erholung vorgelagert werden. Das satte Grün zwischen den Zeilen begeistert noch heute. Die meisten Vorgärten der Reihenhäuser sind liebevoll gestaltet. Zudem waren drei Wohnungsgrößen mit 45, 60 und 70 Quadratmeter Wohnfläche gefordert. Insgesamt acht Architekten des Wettbewerbs wurden auch bei der späteren Umsetzung beteiligt, darunter Wilhelm Riphahn und Klaus Groth, sowie einige Karlsruher Architekten. Im Januar 1929 wurde mit dem Bau begonnen. Schon im Oktober waren die 228 Wohnungen des ersten Bauabschnitts fertiggestellt, ausschließlich Zeilenbauten, streng ausgerichtet nach Nord-Süd, im Geschosswohnungsbau und als Reihenhäuser. Möglichst viel Licht und Luft sollte in die Wohnungen fließen. Unter dem Titel „Die Gebrauchswohnung“ zeigte die Karlsruher Bauausstellung dreißig modern gestaltete und zweckmäßig eingerichtete Kleinwohnungen. Die Geschwindigkeit mit der die Anlage geplant und errichtet wurde verblüfft noch heute. Schließlich vergehen im gegenwärtigen Siedlungsbau oft Jahre bis zum Bezug. Wurde der Dammerstock nach seiner Errichtung zunächst noch als unästhetisches Armenviertel verhöhnt, zählt er bis heute auch wegen seiner besonderen Wohnqualität und dem satten Grün zu den beliebtesten Quartieren der Stadt. Wer hier einmal wohnt, heißt es, zieht nie wieder weg.
Alker-Block – Konservativ und modern zugleich
Zur gleichen Zeit entstand in der Südweststadt ein Wohnblock, der konservativ und modern zugleich war. Ganz in seiner Nähe war bereits 1913 der neue Hauptbahnhof von August Stürzenackers fertiggestellt worden. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges blieb das angrenzende Stadtquartier über viele Jahre in Teilen brach. Ein 1928 ausgeschriebener Ideenwettbewerb sollte endlich die Lücke zwischen Ebert-, Klose-, Schnetzler-und Schwarzwaldstraße schließen. Die Ausschreibung forderte eine "neuzeitliche" Grundrissorganisation und Fassadengestaltung, zugleich drei- bis viergeschossige Baukörper in Anlehnung an die Umgebung. An "einzelnen architektonisch wirksamen Stellen" konnten die vorgegebenen Höhen überschritten werden, hieß es. Fritz Rößler setzte sich mit einem äußerst frischen Beitrag für das Baufeld III zunächst zwar durch, mit der Planung und Umsetzung wurde allerdings ein Jahr später der Karlsruher Architekt und Hochschullehrer Hermann Reinhard Alker betraut. Dabei bediente er sich für seinen Entwurf bis in die formale Umsetzung hinein der Konzeption des eigentlichen Preissiegers.
"Durch geschickte Einschnitte und Abstufungen des Wohnblocks nutzte Alker die Albwinde zur Belüftung des Hofs und der angrenzende Wohnungen, wie schon beim fächerförmig angelegten Stadtgrundriss," erklärt Autorin und Alker-Kennerin Dorothea Roos bei unserem Besuch. Das diese Gestaltung aufgeht, merkt man spätestens, wenn man den luftig hellen Innenhof betritt. Die weitläufige Grünfläche steht allen Bewohnern der Anlage zur Verfügung. Früher gab es auch kleine Nutzgärten, die den einzelnen Wohnungen in den Erdgeschossen zugeordnet waren. Obwohl die Bauten mit ihren Flachdächern, der klaren Gliederung der Baumassen, der Fassadengestaltung und Farbigkeit den Gesetzmäßigkeiten der Neuen Sachlichkeit entsprechen, erinnert die Grundform eher an eine klassische Blockrandbebaung. Und das macht dieses Ensemble so besonders. Auch die Grundrisse entwarf Alker eher konserativ. Die großzügig geschnittenen Drei- bis Vier-Zimmerwohnungen verfügen über ein eigenes Bad und eine Küche. Sie sind mit einer Warmwasserbereitung (Gasdurchlauferhitzer), elektrischem Licht und Heizgas ausgestattet. Bei den meisten Wohnungen wird der Raum um eine Loggia erweitert, die direkt von der Diele erschlossen ist. Die angrenzenden Räume sind teilweise mit Schiebetüren verbunden. Das Elternschlafzimmer besitzt ein Bad ensuite. Gerade wegen der flexiblen Grundrisse, der guten Durchlüftung und Helligkeit sind die Wohnungen auch heute noch sehr beliebt. Anders als auf dem Dammerstock konnten sich die von Beginn an verhältnismäßig hohen Mieten nur finanziell bessergestellte Karlsruher leisten.
Tribünentempel
Alker hatte bereits zuvor einige beachtenswerte Bauwerke in Karlsruhe errichtet. Zu seinen sicherlich schönsten und international geschätztesten gehört der Tribünenbau des ehemaligen Hochschulstadions der Technischen Hochschule. Er war ursprünglich in ein größeres gesamtstädtisches Konzept eingebunden. Schon aus der Ferne verblüfft der axialsymmetrische Ziegelsteinbau mit seiner Klarheit und sachlichen Eleganz. Aus der Nähe betrachtet, wird deutlich, wie virtuos Alker bei der Detaillierung seiner Bauten vorging. Den Sockel ließ er in hellgrauem Waschbeton ausführen. In einer besonderen Oberflächenbehandlung wie er sie auch bei seinen späteren Bauten, beispielsweise dem zuvor erwähnten Wohnblock, verwendete. Alker hatte sich besonders intensiv mit dem Werkstoff Beton auseinandergesetzt. Dabei ging es ihm sowohl um eine kostengünstige Umsetzung unter möglichst geringem Arbeitsaufwand, als auch um den werkgerechten Umgang mit dem Baustoff. An anderen Stellen besonders im Inneren ließ er den Beton steinmetzmäßig überarbeiten. Die oberen Geschosse errichtete Alker in rot-orangem Ziegel, der besonders schön mit der Zementmilch geschlämmten Betonkonstruktion kontrastiert. Die säulenartigen Zugbänder tragen das auskragende Dach zu beiden Seiten.
Hermann Reinhard Alker – Evangelische Matthäuskirche
In den Jahren 1926/27 entstand in der Vorholzstraße ein schlichter Kirchenbau nach Alkers Plänen. Sie ist der erste protestantische Sakralbau nach dem Ersten Weltkrieg in Karlsruhe und beispielhaft für die Errichtung eines solch baukünsterlisch ambitionierten Werks mit finanziell geringen Mitteln. Sie entstand in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Alker, Industriebauunternehmen, bildenden Künstlern und einem Ingenieur des Lichttechnischen Instituts der Technischen Hochschule in Karlsruhe. Die Konstruktion besteht größtenteils aus einem Leichtbausystem aus Holz, wie es auch im Industriebau verwendet wurde. Alker nahm hier gewissermassen vorweg, was dann 20 Jahre später Otto Bartning in seinem Notkirchenprogramm realisierte, den Bau von 48 seriell gefertigten Sakralbauten.
Beim Betrachten seiner Bauwerke aus den 1920er-Jahren, seiner sachlich kühnen Formensprache und Materialwahl, die sehr viele Bezüge zum Neuen Bauen aufweist, bleibt man etwas ratlos in dem Wissen zurück, dass auch Alker bei den Nationalsozialisten eine wichtige Rolle beispielsweise als kurzzeitiger „Stadtbaurat mit besonderen Aufgaben“ in München spielte. Ein Grund weshalb er in der Nachkriegszeit von seinen universitären Ämtern entbunden wurde. Als freier Architekt wirkte er hingegen weiter.
Buchempfehlung
Für einen detailierteren Blick auf Alkers Werk empfiehlt sich die Monographie "Der Karlsruher Architekt Hermann Reinhard Alker, Bauten und Projekte 1921 bis 1958". In ihrer Studie wirdmet sich die Autorin und Architektin Dorothea Roos der Bearbeitung des lange Zeit unzugänglichen Werknachlasses des badischen Architekten und Hochschullehrers. Durch die detailreiche Dokumentation seines Schaffens mittels historischer Fotos, Pläne und Bauaufnahmen wird den Leser*innen die Bedeutung seines Wirkens für die Moderne in Deutschland und seines Interesses an einem experimentellen Umgang mit neuen Werkstoffen und Bauweise sehr verständlich vermittelt.
Hermann Reinhard Alker
1885–1967, geboren in Lambrecht, gestorben in Karlsruhe. Deutscher Architekt. Er studierte von 1904 bis 1911 an der TH Karlsruhe u. a. bei Carl Schäfer und Friedrich Ostendorf. Bei Besuchsreisen zu seinem in Tivoli bei Rom wohnenden Bruder wird er bekannt mit italienischen Architekten, darunter Giuseppe Sacconi (1854–1905). Anschließend war Alker Assistent im Büro Ostendorfs und vertrat ihn ab 1914 auch auf dessen Lehrstuhl. Ab 1913 war er als Baupraktikant in der Staatlichen Hochbauverwaltung tätig, ab 1918 Assistent bei Karl Caesar (1874–1942) an der Karlsruher Hochschule. Nach der bestandenen 2. Staatsprüfung wurde er 1919 zum Regierungsbaumeister (Assessor im staatlichen Bauwesen) ernannt. 1920 promovierte er bei Walter Sackur (1871–1926) und habilitierte. Ab 1920/21 hatte er an der TH Karlsruhe einen Lehrauftrag inne, 1924 erhielt er eine außerordentliche Professur. Zudem übernahm er verschiedene Lehraufträge, unter anderem für Baustoffkunde, Darstellende Geometrie, Gebäudekunde, Geschichte der Architektur und Gartenkunst der italienischen Renaissance. 1928 nahm er an den Kunstwettbewerben der Olympischen Sommerspiele in Amsterdam teil, ebenso 1932 an den Kunstwettbewerben zur Olympiade in Los Angeles. 1935 wurde er von den Nationalsozialisten als einer von zwölf Durlacher Stadtverordneten eingesetzt. 1936 erhielt er den Kulturpreis des Gauleiters in Baden. Am 1. September 1937 wurde Alker von Adolf Hitler zum "Stadtbaurat mit besonderen Aufgaben" in München ernannt und übernahm die Leitung der "Sonderbaubehörde Ausbau der Hauptstadt der Bewegung". Auf Weisung Hitlers wurde Alker aber bereits am 27. Juni 1938 ohne Angabe von Gründen mit sofortiger Wirkung wieder entlassen. 1939 erhielt Alker eine ordentliche Professur an der TH Karlsruhe. Im selben Jahr erkannte man ihm den 1. Preis im Wettbewerb um einen Entwurf für das Funkhaus des "Reichssenders Stuttgart" zu, dieser Entwurf wurde allerdings nicht ausgeführt. Ab 1940 lehrte er in Nachfolge von Hermann Billing an der Karlsruher Hochschule. Wegen seiner NS-Vergangenheit wurde Alker von der Militärregierung am 30. Juni 1945 vom Hochschuldienst ausgeschlossen und 1950 nachträglich emeritiert. Im Nachkriegsdeutschland war er als freischaffender Architekt tätig. (Quelle: Wiki)
THE LINK Buchtipp
Der Karlsruher Architekt Hermann Reinhard Alker, Bauten und Projekte 1921 bis 1958 Dorothea Roos, 21 x 30 cm, Hardcover, Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen, ISBN 978 3 8030 0745 2 (deutsch)