Kunst und Architektur in der Hafenmetropole – Die Werkstadt
Auf Reisen / Reportage:„Wenn ich meinen Großvater nach seinem Empfinden unserer Stadt gegenüber frage“, erzählt eine Stadtführerin, „so antwortet er: ‚Ich bin stolz! Das haben wir erbaut und ich habe mitgeholfen!'“ Diesen Stolz der Kriegsgeneration, die ihre Stadt nach dem verheerenden Bombardement durch die Deutschen aus dem Nichts wieder aufbaute, findet man bei den Rotterdamern auch heute. Mit einem feinen Gespür für das verbliebene historische Erbe ihrer Stadt und mit großer Lust an architektonischen und technologischen Innovationen entwickeln die Rotterdamer ihre Stadt immer weiter und erfinden ganze Stadtviertel neu. Ohne Scheu begegnen sie den Themen unserer Zeit mit beeindruckenden Visionen und glauben fest an deren Umsetzbarkeit. Ob Künstler, Projektentwickler, Investor, Stadtverwaltung oder einfacher Bürger: mit unerschrockener, zupackender Experimentierfreude werkeln sie gemeinsam in ihrer Stadt wie in einem großen Projektlabor.
Das Depot Boijmans Van Beuningen
In unmittelbarer Nachbarschaft vom Museum Boijmans Van Beuningen, dem Rotterdamer Kunstmuseum, entsteht das Depot Boijmans Van Beuningen. Das ortsansässige Architekturbüro MVRDV entwarf dafür einen eindrucksvollen, 40 Meter hohen, schüsselförmigen Baukörper, der eine durchgehende Spiegelfassade erhält. In ihr wird der umliegende Museumspark reflektiert, das Gebäude erscheint weniger massiv. Die Spiegel haben für Museumsdirektor Sjarel Ex eine symbolische Bedeutung: In der Reflexion der Umgebung und herannahender Museumsbesucher sieht er eine Metapher für die Besitzverhältnisse der wertvollen Kunstsammlung – sie gehört der Stadt und damit allen Bürgern. Dieser der Allgemeinheit verpflichteten Haltung entspricht auch das Nutzungskonzept, mit dem das Museum seinem dringenden Bedarf an Lagerfläche für den bislang weit verstreuten Sammlungsbestand begegnet: Im neuen Depot wird die komplette Sammlung des Museums permanent für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Es werden Führungen durch Lagerräume und Werkstätten angeboten, aber auch selbständige Erkundungen des Depots sollen möglich sein. Architektonische Grundlage dafür bildet ein transparent gehaltenes Treppenhaus, das das Architekturbüro mit der Künstlerin Marieke van Diemen entwarf. Im Zentrum des runden Gebäudes führt eine große Treppe im Zickzack durch ein Atrium vom Foyer über sechs Stockwerke zum Dachgarten. Die Depoträume, die den unterschiedlichen konservatorischen Ansprüchen der Sammlung angepasst sind, sind durchweg durch große Fensterfronten vom Treppenhaus her einsehbar. Scheinbar frei schwebende, riesige Vitrinen und begehbare brückenartige Schaukästen durchziehen das Atrium und präsentieren Einzelstücke der Sammlung. So entsteht eine gläserne labyrinthartige Struktur, die dem Besucher immer wieder neue Blickachsen bietet.
Mit dem Depot, das voraussichtlich 2021 eröffnet wird, macht die Stadt Rotterdam und das Museum Boijmans Van Beuningen das Archivieren, Konservieren und Restaurieren zu einem erlebbaren Bestandteil der musealen Ausstellungs- und Vermittlungstätigkeit – ein weltweit einzigartiges Konzept!
"The Brutus" vom Atelier Van Lieshout
Im westlich gelegenen ehemaligen Hafendistrikt Viershaven, dem heutigen „makers district“ M4H, liegt das Atelier des niederländischen Bildhauers Joep Van Lieshout, der vor allem mit seinen fantasievollen Neuinterpretationen mobilen Wohnens international bekannt wurde. Neben der Verwirklichung all seiner wunderlich amorphen Skulpturen arbeiten er und sein Team aktuell daran, sich und der Stadt Rotterdam ein gigantisches Denkmal zu setzen: auf dem Ateliergelände soll ein dreitürmiger Komplex entstehen, ein „Cluster-Gebäude“, das Künstlerateliers, Wohneinheiten, Büros und Ausstellungsflächen vereint. Getragen von dem Wunsch, einen lebendigen Ort zu erschaffen, an dem Kunst für jedermann möglichst niedrigschwellig zugänglich ist, entstand die Idee im gleichen Geiste wie die Pläne für das Kunstdepot. Der architektonische Entwurf dagegen erscheint ungleich schwergewichtiger.
Auf drei statisch wirkende Türme unterschiedlicher Höhe wird jeweils ein größerer Kubus aufgesetzt, der die Türme gleichsam in den Boden zu drücken scheint. „The Brutus“ nennt Van Lieshout diesen Gebäudeplan, in Anspielung an den in der Nachkriegszeit aufkommenden Brutalismus mit seiner klaren Linienführung und den rohen Sichtbetonfassaden. Um seine Vision von diesem Kunstort in die Realität umzusetzen, gründete Van Lieshout 2008 die Stiftung AVL Mundo. Im konstanten Austausch mit der Stadt Rotterdam hofft er, seine Vision innerhalb der nächsten vier Jahre umsetzen zu können.
Der Umbau der Lagerhallen Fenix I und II auf der Halbinsel Katendrecht
Am südlichen Ufer des Rijnhaven, auf der Halbinsel Katendrecht, befindet sich ein langgezogener Hafenspeicher. Ende des Zweiten Weltkriegs zerstörte ein Feuer einen Teil dieses Gebäudes und zerlegte die einstmals weltgrößte Lagerhalle in zwei separate Segmente. In den 50er Jahren wurden die beiden Hallenkomplexe wieder aufgebaut und entstiegen wie der legendäre Phoenix der Asche: Fenix I und Fenix II entstanden. Noch bis in die 80er Jahre als Lagerhallen genutzt, verfielen diese wiederum, nachdem der Rotterdamer Hafen weiter nach Westen, fern der Innenstadt, verlagert wurde. 2007 begann ein Umdenken der Stadt: sukzessive wird seitdem der Rijnhaven mit der angrenzenden Halbinsel Katendrecht und dem Wilheminaplein umstrukturiert, architektonisch aufgewertet und in eine Art Wasser-Naherholungsgebiet verwandelt.
Vielversprechend dabei die Pläne für das westlich gelegene Fenix II: hier soll ein Museum für Migration einziehen, in dem das Thema historisch, aber auch zeitgenössisch-künstlerisch durchleuchtet wird. Ein durchaus passender Ort, war doch diese Rotterdamer Hafenanlage einst Abreise- und Ankunftsort für Millionen von Ein- und Auswanderern. Die Entwicklung des neuen Museums obliegt der Rotterdamer Droom & Daad Stiftung, die sich auf lokale Kulturförderung spezialisiert hat. Auf der Suche nach einem geeigneten Umgang mit der historischen Lagerhalle und mit dem Wunsch, dem Bestehenden ein einprägsames architektonisches Highlight hinzuzufügen, wurde die Stiftung bei dem in Beijing ansässigen Architekturbüro MAD fündig: Dieses entwarf eine Art spiralförmigen Dachwipfelpfad, der in der Mitte des Gebäudes beginnt und dem Besucher über den Dächern der Kaibebauung einen eindrucksvollen 360º-Panoramablick auf Rotterdam verspricht. Die übrige Lagerhalle soll möglichst originalgetreu restauriert werden – in ihrem Zentrum aber wird sich gleich einer theatralen Inszenierung ein Weg Richtung Himmel eröffnen.
Sehr viel bodenständiger wirkt da die Umgestaltung des östlichen Fenix I, für die das Rotterdamer Architekturbüro Mei architects and planners verantwortlich ist. Den Planern war es wichtig, die Fassade und die Hallenstruktur des Hafenspeichers so weit wie möglich zu erhalten und mit einem neu zu errichtenden Wohnkomplex zu verzahnen. Sie ersannen eine tischförmige Stahlkonstruktion, die in die Lagerhallen eingelassen wurde und nun einen verschachtelten Baukörper mit 200 Appartements trägt. Kurz vor seiner Fertigstellung wirkt Fenix I in seiner Gesamtheit wie ein riesiger Passagierdampfer.
POST
Mitten in der Rotterdamer Innenstadt, fußläufig zur spektakulären Markthalle des Architekturbüros MVRDV, befindet sich eine verblühendes Kleinod des Art Deco: die 1916 erbaute Hauptpost, die aus strategischen Gründen vom Bombardement durch die Deutschen verschont blieb. Ein rares Kulturerbe also, das die Stadt Rotterdam unbedingt erhalten möchte. Doch der öffentlichen Hand fehlt das nötige Kleingeld. Nachdem sich bereits zwei Investoren an dem Objekt die Zähne ausgebissen haben, fand sich schließlich die israelische Projektentwicklergruppe OMNAN. Sie lud vier international renommierte Architekturbüros zu einem Planungswettbewerb ein. Von Daniel Liebeskind, Karim Rashid, ZZ Architects und dem New Yorker Büro ODA überzeugte letzteres schließlich durch einen sorgsamen Umgang mit dem Bestandsgebäude. Ihr Entwurf sieht vor, das denkmalgeschützte Hauptgebäude mit der historischen Schalterhalle originalgetreu zu restaurieren. Die Schalterhalle soll öffentlich zugänglich sein und einen Durchgang zu der dahinterliegenden Straße erhalten.
Der eigentliche architektonische Eingriff betrifft den ehemaligen Postverladehof. Im Grundriss bleibt er erhalten, bekommt aber einen gigantischen Wohnturm aufgepfropft, dessen Fassade in Materialität und Formensprache Elemente der Art Deco-Ornamentik der Schalterhalle aufgreift sowie auf das Fassaden-Raster des Hauptpostgebäudes verweist. So entsteht ein hybrides Design zwischen eleganten Schwüngen und einer klaren Linienführung. Die Eingangshalle des Turms bildet in ihrer Höhe einen sakral anmutenden Raum, der den gesamten ehemaligen Innenhof überspannt und ein Pendant zur Schalterhalle bildet.
Auf der einen Seite ein respektvoller und zurückhaltender Umgang mit dem vorgefundenen historischen Erbe, auf der anderen Seite der Entwurf einer eigenwilligen architektonische Setzung – mit der Fertigstellung der POST wird Rotterdam einen weiteren architektonischen Höhepunkt erhalten.
Rotterdam Partners hat uns zu der redaktionell unabhängigen Recherchereise eingeladen. Weitere Architekturgeschichten aus Rotterdam: hier.
Museum Boijmans Van Beuningen
Museumpark 18-20, 3015 CX Rotterdam. Momentan wird das Museum aufwändig renoviert und soll 2026 wiedereröffnet werden. "Boijmans in Transit" ist Ausstellungs- und Vermittlungsprogramm mit dem das Museum an mehreren Orten vertreten sein wird.
Mei architects and planners
Das Büro wurde 1994 von Robert Winkel mit Sitz in Rotterdam gegründet. Schwerpunkt ihrer Arbeit sind Umnutzungen bestehender Industriegebäude, wie beispielsweise die Delfshaven Factory oder die Jobsveem und Fenix Warehouses in Rotterdam.
MVRDV
Niederländisches Architekturbüro. 1993 in Rotterdam gegründet. MVRDV steht als Abkürzung für die Nachnamen der Architekten Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries, die 1990 ihr Architekturdiplom an der TU Delft machten. Vor der Bürogründung arbeiteten Maas und Van Rijs unter anderem für das Office for Metropolitan Architecture (OMA) von Rem Koolhaas. Markenzeichen des Büros ist unter anderem die Stapelung und das Aufeinanderschichten von Architektur und damit die Thematisierung von Komplexität und Dichte. Zu den bekannten MVRDV-Projekten gehören das 1997 fertiggestellte Villa VPRO für den Rundfunk in Hilversum, das in Amsterdam ebenfalls 1997 fertiggestellte 100 WOZOCOs (aus dem niederländischen woonzorgcomplex), der Pavillon der Niederlande zur Expo 2000 in Hannover, der Silodam in Amsterdam (2002), das Wohnhochhaus Mirador in Madrid und die 2014 eröffnete Markthal in Rotterdam.
Atelier van Lieshout AVL
Mehrfach preisgekrönte Künstlergruppe aus den Niederlanden mit Sitz in Rotterdam. 1995 vom Objektkünstler, Maler und Plastiker Joep van Lieshout (geboren 1963 in Ravenstein, Nordbrabant) gegründet. Die Werke von AVL bewegen sich zwischen Installation, Bildhauerei, Design und Architektur mit Themen zu Politik, Freiheit, Sex und Anarchie, zu sehen und zu erleben u. a. in den Niederlanden und in Deutschland.