Stadt des Rechts: Wie Karlsruhe Demokratie baut

Reportage:

Architektur des Rechts: Beispiele, Hintergründe und eine Route zum Nachgehen..

Stadt des Rechts: Wie Karlsruhe Demokratie baut Stadt des Rechts: Wie Karlsruhe Demokratie baut

Historismus / Baukunst vor 1900 — Deutschland | 

Diese Story ist Teil unserer Karlsruhe-Reihe (3/4): nach dem Architekturschaufenster als öffentlichem Diskursraum (Teil 1) und der Orangerie als neuem Ausstellungsort mit „Architstories“ (Teil 2) richtet sich der Blick auf die Orte, an denen der Rechtsstaat Form annimmt – im Alltag der Stadt.

Demokratie braucht Räume. In Karlsruhe – Sitz von Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht – zeigen öffentliche Gebäude, wie Recht sichtbar wird: offen, zugänglich, würdevoll. Karlsruhe versteht sich als „Stadt des Rechts“. Nicht nur, weil hier zwei der höchsten Gerichte Deutschlands sitzen, sondern weil viele Bauten den Rechtsstaat sichtbar machen. Architektur ist mehr als Hülle; sie übersetzt Prinzipien in Raum. Transparenz, Teilhabe, Autorität – alles Fragen der Form.

Bundesverfassungsgericht (BVerfG): Das Pavillon-Ensemble von Paul Baumgarten (späte 1960er-Jahre, später erweitert) setzt auf Pavillons, Glas, filigrane Strukturen. Keine einschüchternde Treppenfront, kein Palastgestus. Die Idee: Nähe statt Distanz, Einblick statt Abschottung. Wer vor der verglasten Fassade steht, versteht, worum es geht: Rechtsprechung als öffentliche Aufgabe, nicht als Ritual hinter dicken Mauern.

Bundesgerichtshof (BGH): Hier arbeitet die Gegenfigur – Umnutzung mit Geschichte. Der Gerichtshof residiert in der ehemaligen Erbgroßherzoglichen Anlage (Architekt: Josef Durm, 1891–1897). Historischer Prachtbau trifft demokratische Institution. Die Botschaft ist eine andere als beim Verfassungsgericht: Kontinuität. Recht entsteht nicht aus dem Nichts, es baut auf. Der BGH im Residenz-Ensemble zeigt, wie Umnutzung Würde bewahren und dennoch Gegenwart ermöglichen kann. Hier liegt ein Kern der Umbaukultur: Demokratie entsteht nicht nur aus Neubau, sondern aus Weiterbauen – historische Hüllen werden neu programmiert, ohne ihre Zeitschichten zu leugnen.

Das gilt auch für das Ständehaus (heute Stadtbibliothek) und das Schloss als Museum: Aus Symbolen der Macht werden Orte der Öffentlichkeit.

Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, (GBA) an der Brauerstraße markiert die Nähe der Institutionen – Justiz und Strafverfolgung, klar getrennt und doch räumlich verzahnt. Der Architekt und Theoretiker O. M. Ungers entwarf hier einen streng gerasterten, eher hermetisch wirkenden Bau, der 1994 fertiggestellt wurde.

Wer die Stadtachse weiter liest, landet bei Friedrich Weinbrenner. Marktplatzensemble mit Stadtkirche und Rathaus – Kirche, Staat, Bürgerschaft – ist ein aufklärerisches Statement in Stein: Klarheit, Maß, Ordnung. Öffentlichkeit braucht lesbare Räume. Hier hat Karlsruhe früh ein Bild gefunden, das bis heute trägt.

Schloss Karlsruhe war Symbol absoluter Macht – Strahlenkranz, alles auf den Herrschaftspunkt bezogen. Heute ist es Museum. Die Deutung kippt: Vom Machtsitz zum Ort politischer Bildung. Ähnlich das Ständehaus (heute Stadtbibliothek), Sitz des ersten frei gewählten badischen Parlaments: ein Gedächtnisort der regionalen Demokratiegeschichte, nach der Zerstörung erneuert und neu erzählt.

Wenige Schritte weiter zeigt das Oberlandesgericht (Josef Durm, 1902) die Sprache des 19. Jahrhunderts: Monumentaler Justizbau, Würde durch Schwere. Nebenan, in anderen Ecken der Stadt, wird’s wieder leichter: Das Polytechnikum (Vorläufer des KIT) wurde 1825 gegründet. Das Hauptgebäude entwarf der Weinbrenner-Schüler Heinrich Hübsch und steht für den aufklärerischen Zusammenhang von Bildung, Technik, Mündigkeit – Voraussetzungen eines handlungsfähigen Gemeinwesens.

Demokratie ist auch Infrastruktur: barrierefreie Zugänge, verständliche Wegeführungen, gut nutzbare Erdgeschosse statt erhöhter Sockel, bauliche Sicherheitszonen, die Transparenz nicht aufheben. Und sie ist Klima-Praxis: Schatten, Wasser, robuste Materialien, Hitzeminderung auf Plätzen – Qualitäten, die Aufenthalt erlauben und Teilhabe sichern. Diese alltägliche Ebene verbindet „Recht“ mit Stadtleben.

Und über all dem liegt der Stadtgrundriss: die Fächerform. Vom Schlossturm aus lesbar wie ein Diagramm. Zuerst absolutistische Setzung, heute öffentlich genutzter Raum, der Übersicht und Orientierung bietet – ein Bild von Ordnung, Sichtbarkeit, Durchlässigkeit. Gute Orte machen Verfahren verständlich; die Fächerstadt kann das.

Was heißt das im 21. Jahrhundert? Klassische Formen – Portikus, Kuppel – vermittelten lange Stabilität. Heute werden sie neu bewertet. Projekte wie das diskutierte „Forum Recht“ kreisen um die Frage: Welche Architektursprache erzählt heutige Demokratie glaubwürdig? Reicht die Zitation antiker Zeichen? Oder brauchen wir zeitgenössische Bilder: Öffentliche Erdgeschosse statt Sockel, Einsichten statt Repräsentationsfassaden, Räume für Diskussion und Aufenthalt? Karlsruhe bietet beide Seiten: Tradierte Würde und erlernte Transparenz. Das Verfassungsgericht zeigt, wie modernistische Zurückhaltung Autorität ohne Pathos erzeugt. Der Gerichtshof zeigt, wie Geschichte zur Trägerin demokratischer Funktionen werden kann. Dazwischen die Orte der Aufklärung – Marktplatz, Ständehaus, Hochschule –, die Bürgerschaft buchstäblich in die Mitte stellen.

Wer das Thema erleben will, kann es zu Fuß tun: Start Marktplatz (Rathaus, Stadtkirche), weiter zum Ständehaus, zum BGH-Ensemble, über den Schlossplatz (Fächerperspektive vom Turm), Abschluss beim Bundesverfassungsgericht. Dazwischen liegt, was Demokratie braucht: Wege, Plätze, Einblicke. Am Ende bleibt ein Befund: Recht, Demokratie und Architektur sind in Karlsruhe keine Abstraktion. Sie sind sichtbar, betretbar, verhandelbar. Gute Gebäude erklären ihre Aufgabe. Die besten laden ein, darüber zu sprechen.

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Flache Pavillons, große Glasflächen, präzise Fügung: Die Architektur setzt auf Nähe und Einblick – Rechtsprechung als öffentliche Aufgabe, nicht als Ritual hinter Mauern.

Bundesverfassungsgericht, Paul Baumgarten, 1975

Flache Pavillons, große Glasflächen, präzise Fügung: Die Architektur setzt auf Nähe und Einblick – Rechtsprechung als öffentliche Aufgabe, nicht als Ritual hinter Mauern.

Bild vergrößern (Bundesverfassungsgericht, Paul Baumgarten, 1975)(Abbildung © Jan Dimog)
Öffentlichkeit und Nahbarkeit statt Palastgestus.

Bundesverfassungsgericht, Paul Baumgarten

Öffentlichkeit und Nahbarkeit statt Palastgestus.

Bild vergrößern (Bundesverfassungsgericht, Paul Baumgarten)(Abbildung © Hendrik Bohle)
Der Gerichtssitz nutzt das historische Residenz-Palais (Architekt: Josef Durm, 1897) seit 1950 – Umnutzung statt Neubau. Die Schale bleibt lesbar, die Funktion ist Gegenwart: Rechtsstaat im gewachsenen Stadtgefüge.

Bundesgerichtshof (BGH), Karlsruhe

Der Gerichtssitz nutzt das historische Residenz-Palais (Architekt: Josef Durm, 1897) seit 1950 – Umnutzung statt Neubau. Die Schale bleibt lesbar, die Funktion ist Gegenwart: Rechtsstaat im gewachsenen Stadtgefüge.

Bild vergrößern (Bundesgerichtshof (BGH), Karlsruhe)(Abbildung © Hendrik Bohle)
Das Nordgebäude des BGH wurde 2000 begonnen und 2003 bezogen; geplant von Dohle & Lohse (Braunschweig). Es bündelt u. a. sechs Zivilsenate, zwei Sitzungssäle, Pressestelle und Bibliothek und erweitert das historische Ensemble funktional und leise sichtbar. Demokratische Arbeit braucht Arbeitsräume – das Nordgebäude liefert die Infrastruktur dafür.

Bundesgerichtshof (BGH), Nordgebäude, 2003

Das Nordgebäude des BGH wurde 2000 begonnen und 2003 bezogen; geplant von Dohle & Lohse (Braunschweig). Es bündelt u. a. sechs Zivilsenate, zwei Sitzungssäle, Pressestelle und Bibliothek und erweitert das historische Ensemble funktional und leise sichtbar. Demokratische Arbeit braucht Arbeitsräume – das Nordgebäude liefert die Infrastruktur dafür.

Bild vergrößern (Bundesgerichtshof (BGH), Nordgebäude, 2003)(Abbildung © Jan Dimog)
Das neue Empfangsgebäude ersetzt das frühere Kontrollhaus; Architekten: Harter + Kanzler (Freiburg). Ein plastischer Naturstein-Kubus mit eingezogenem, verglastem Sockel bringt Zugang, Sicherheit und Öffentlichkeit zusammen; Kosten ca. 4,9 Mio. €. Der Saal kragt als Vordach aus.

Bundesgerichtshof (BGH), Empfangsgebäude mit Sitzungssaal, 2012

Das neue Empfangsgebäude ersetzt das frühere Kontrollhaus; Architekten: Harter + Kanzler (Freiburg). Ein plastischer Naturstein-Kubus mit eingezogenem, verglastem Sockel bringt Zugang, Sicherheit und Öffentlichkeit zusammen; Kosten ca. 4,9 Mio. €. Der Saal kragt als Vordach aus.

Bild vergrößern (Bundesgerichtshof (BGH), Empfangsgebäude mit Sitzungssaal, 2012)(Abbildung © Hendrik Bohle)
Der Neubau von Oswald Mathias Ungers steht auf dem ehemaligen DWM-Areal beim heutigen ZKM; Einweihung 1998. Typologisch als „Stadtpalais“ gedacht, mit klarer Geometrie und streng gefasster Adresse. In Sichtweite von ZKM und „Platz der Menschenrechte“ verknüpft der Bau Justiz mit Stadtraum.

Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof (GBA), O. M. Ungers, 1998

Der Neubau von Oswald Mathias Ungers steht auf dem ehemaligen DWM-Areal beim heutigen ZKM; Einweihung 1998. Typologisch als „Stadtpalais“ gedacht, mit klarer Geometrie und streng gefasster Adresse. In Sichtweite von ZKM und „Platz der Menschenrechte“ verknüpft der Bau Justiz mit Stadtraum.

Bild vergrößern (Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof (GBA), O. M. Ungers, 1998)(Abbildung © Jan Dimog)
Der Platz bezeichnet das Areal zwischen ZKM und Filmpalast; die Stadt benannte ihn am 10. Dezember 2015 (Tag der Menschenrechte). Aus der Kriegsfabrik-Vergangenheit des Ortes wird ein öffentlicher Bezugspunkt für Frieden, Recht und Erinnerung – in Nachbarschaft zur Bundesanwaltschaft. Der Platz markiert, dass Recht nicht nur in Gebäuden verhandelt wird, sondern im Alltag der Stadt.

Platz der Menschenrechte, seit 2015 ZKM-Areal

Der Platz bezeichnet das Areal zwischen ZKM und Filmpalast; die Stadt benannte ihn am 10. Dezember 2015 (Tag der Menschenrechte). Aus der Kriegsfabrik-Vergangenheit des Ortes wird ein öffentlicher Bezugspunkt für Frieden, Recht und Erinnerung – in Nachbarschaft zur Bundesanwaltschaft. Der Platz markiert, dass Recht nicht nur in Gebäuden verhandelt wird, sondern im Alltag der Stadt.

Bild vergrößern (Platz der Menschenrechte, seit 2015 ZKM-Areal)(Abbildung © Hendrik Bohle)
24 doppelseitige Schilder versammeln Stimmen von Richter:innen, Jurist:innen und Bürger:innen; zentral zwischen Zirkel und Schloss sowie dezentral im Stadtgebiet. Das 2005 eingeweihte Kunstwerk macht Recht und Unrecht als offene Debatte erfahrbar – kein Denkmal, sondern eine Fragestellung im Stadtraum. Es ist Karlsruhes prägnantestes Bild für sichtbare Grundrechte.

Platz der Grundrechte, Jochen Gerz, 2005

24 doppelseitige Schilder versammeln Stimmen von Richter:innen, Jurist:innen und Bürger:innen; zentral zwischen Zirkel und Schloss sowie dezentral im Stadtgebiet. Das 2005 eingeweihte Kunstwerk macht Recht und Unrecht als offene Debatte erfahrbar – kein Denkmal, sondern eine Fragestellung im Stadtraum. Es ist Karlsruhes prägnantestes Bild für sichtbare Grundrechte.

Bild vergrößern (Platz der Grundrechte, Jochen Gerz, 2005)(Abbildung © Hendrik Bohle)
Karlsruhe war 1893 (Initiative Hedwig Kettler) Standort des ersten deutschen Mädchengymnasiums. Das heutige Fichte-Gymnasium residiert in einem von 1908 bis 1910 errichteten Schulbau (Curjel & Moser). Bildung als Voraussetzung demokratischer Teilhabe – hier hat Karlsruhe frühe Geschichte geschrieben.

Fichte Gymnasium, Heinrich Lang, 1878

Karlsruhe war 1893 (Initiative Hedwig Kettler) Standort des ersten deutschen Mädchengymnasiums. Das heutige Fichte-Gymnasium residiert in einem von 1908 bis 1910 errichteten Schulbau (Curjel & Moser). Bildung als Voraussetzung demokratischer Teilhabe – hier hat Karlsruhe frühe Geschichte geschrieben.

Bild vergrößern (Fichte Gymnasium, Heinrich Lang, 1878)(Abbildung © Hendrik Bohle)
Das Ständehaus (Weinbrenner/F. Arnold, 1820–1822) war der erste Parlamentsneubau Deutschlands; hier tagte bis 1933 das badische Parlament. Nach Kriegszerstörung und Abriss entstand 1993 das Neue Ständehaus (Stadtbibliothek) mit der „Erinnerungsstätte Ständehaus“ – ein Ort, der Parlamentarismus als Stadtgedächtnis vermittelt.

Ständehaus / Neues Ständehaus (1822; 1993)

Das Ständehaus (Weinbrenner/F. Arnold, 1820–1822) war der erste Parlamentsneubau Deutschlands; hier tagte bis 1933 das badische Parlament. Nach Kriegszerstörung und Abriss entstand 1993 das Neue Ständehaus (Stadtbibliothek) mit der „Erinnerungsstätte Ständehaus“ – ein Ort, der Parlamentarismus als Stadtgedächtnis vermittelt.

Bild vergrößern (Ständehaus / Neues Ständehaus (1822; 1993))(Abbildung © Hendrik Bohle)
Der Stadtgrundriss: die Fächerform. Vom Schlossturm aus lesbar wie ein Diagramm.

Schloss Karlsruhe

Der Stadtgrundriss: die Fächerform. Vom Schlossturm aus lesbar wie ein Diagramm.

Bild vergrößern (Schloss Karlsruhe)(Abbildung © Jan Dimog)

Stadt des Rechts – Orte in Karlsruhe (Auswahl)

  1. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Paul Baumgarten, späte 1960er; Pavillons & Glas, Symbol für Offenheit.
  2. Bundesgerichtshof (BGH) & GBA, ehem. Residenz-Ensemble; Tradition & demokratische Nutzung.
  3. VerfGH Baden-Württemberg, Schlossbezirk; rechtsstaatliche Kontrolle im föderalen Gefüge.
  4. Marktplatz: Stadtkirche & Rathaus – Weinbrenner; Klarheit, Maß, Bürgersinn.
  5. Schloss Karlsruhe – Vom Machtzentrum zum Museum und Lernort.
  6. Ständehaus / Stadtbibliothek – Ort früher Parlamentsgeschichte in Baden.
  7. KIT-Altbau (Polytechnikum) – Bildung, Technik, Mündigkeit.
  8. OLG Karlsruhe – 19.-Jh.-Justizbau; Würde durch Schwere.
  9. Fächergrundriss – Beste Aussicht: Schlossturm

Route-Vorschlag (90–120 Min.)
Marktplatz → Ständehaus → BGH/GBA (Brauerstraße) → Schloss/Schlossturm → BVerfG.

Hinweis
Zutritt zu Gerichtsgebäuden kann eingeschränkt sein (Sicherheitskontrollen, Sitzungsbetrieb). Außenräume sind frei zugänglich.

Karte mit den Bauwerk(en)

Interaktive Karte mit Bauwerke(n):

ZKM | Zentrum für Kunst und Medien (Philipp Jakob Manz, Schweger + Partner [Karlsruhe] ; 1918, 1997) | Platz der Grundrechte (Jochen Gerz [GER. Karlsruhe] ; 2005) | Bundesverfassungsgericht (Paul G. R. Baumgarten [GER. Berlin] ; 1969) | Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, GBA (O. M. Ungers ; 1994) |