40 Jahre Planstadt – Almerismus
Auf Reisen / Reportage:"Als Ganzes geplante und angelegte, nicht natürlich gewachsene Stadt“, so definiert der Duden eine Planstadt. Was sich neutral anhört, bekommt mit dem anderen Begriff eine deutlich andere Betonung: Retortenstadt. Die ist unnatürlich. Synthetisch. Künstlich. Dass Architektur und Städtebau in den Niederlanden nicht nur Grachtengemütlichkeit und putzige Innenstadtpittoreske bedeuten, sondern auch Aufbruch und Avantgarde, Dutchdesign und flotte Fortschrittlichkeit haben die hiesigen Gestalter, Baumeister und Planer schon häufig bewiesen. Im Frühjahr waren wir zur Rotterdamer Architekturbiennale eingeladen und konnten uns von eben diesem Eiltempo in Sachen Kreativität und Umsetzungsstärke überzeugen. Das hat Appetit auf mehr Architektonisches und Stadtwagemut gemacht. Da passt es, dass Almere kürzlich seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert hat. Grund genug, uns direkt vor Ort erklären zu lassen, was sich seit dem ersten Spatenstich 1975 alles getan hat. In diesem Teil geht es um Almere-Stad, der Innenstadt, in der sich namhafte Architekten und Künstler austoben konnten und die sich von anderen niederländischen Zentren völlig unterscheidet. Retorte hin oder her: diese Synthesestadt ist lebendig, lernt dazu, entwickelt sich und ist eine Reise wert.
Start und Ende des Rundgangs: am Hauptbahnhof Almere Centrum
Der Plan
Almere Stad ist mit Almere Haven das Zentrum der mehrkernig angelegten Stadtstruktur. Verwaltung, Wirtschaft und Kultur sollten hier angesiedelt werden, um so die Leitstelle der weitläufig angelegten Stadtteile zu übernehmen. 1979 begannen die Baumaßnahmen, vier Jahre nachdem der erste Spatenstich gesetzt worden war. Einige Jahrzehnte zuvor hatte man umfangreiche Landgewinnungen eingeleitet, so dass ab 1975 Almere auf dem südlichen Teil des Flevolandpolders errichtet werden konnte. Die Stadt gehört zu Flevoland, der jüngsten Provinz des Landes. Sie besteht ausschließlich aus Land, das dem Ijsselmeer über Jahre abgewonnen worden war. Amsterdam ist keine 30 km entfernt und die Menschen der einwohnerstärksten Stadt der Niederlande waren auch die Zielgruppe. Almere war als Schlaf- und Ausweichstätte für die Hauptstädter konzipiert. Der Masterplan sah Variationen der schachbrettartig angelegten Struktur vor, von denen man sich jedoch verabschiedete, je weiter und schneller sich die Stadt entwickelte. Heute ist Almere auf eine 200.000 Einwohner-Stadt angewachsen, hat mit den zahlreichen Pendlern gen Hafenstadt nach wie vor einen starken Bezug zu Amsterdam, aber einen mindestens genauso starken Willen das "Almerische" herauszubilden. Da trifft es sich gut, dass der Ort für Baukunst und Architekturabenteuer immer bekannter wird.
Die Architektur
AAA ist ein Kürzel, das gut hierher passt. Denn Almeres Avantgarde-Architektur (AAA) ist vor allem hier im "Stadcentrum" zu finden. Niederlandes Großdesignfirma Office for Metropolitan Architecture (OMA) hatte 1994 den Masterplan Stadshart entwickelt, der bis 2010 umgesetzt wurde. Auf 800 x 800 Meter sah das Konzept eine XXL-Transplantation vor. In das bestehende Zentrum wurde ein neuer Kern eingefügt. Es gab mehrere Ziele: verschiedene Funktionen und Bereiche sollten hier miteinander verwoben werden – Arbeit, Leben, Gewerbe, Kultur, Unterhaltung und Sport. Der Bezug zum Binnensee Weerwater wurde betont und markante Bauten gaben der Innenstadt Charakter und Ausdruck. Zuvor entwarfen Rem Koolhaas und sein OMA-Team mit Floris Alkemade und DS Landschapsarchitecten einen Stadthügel und gleich mehrere Stadtebenen. Klingt nach Dubaistyle? Ist es auch. Der Mensch als Transformer. Je näher man dem Weerwater kommt, desto höher geht es, insgesamt auf über sechs Meter. Diese Stadtstockwerke sind je nach Verkehrsmittel erfahr- und merkbar. Denn während oben Wohnungen, Büros, Gastronomie und Geschäfte sind, gibt es unten die Infrastruktur: Parkplätze, Busfahrbahnen und das futuristische, einer Rohrpostanlage nachempfundene Müllentsorgungssystem. Abfall wird durch Rohre in unterirdische Sammelstellen gesaugt, die sich per Signal melden, sobald sie geleert werden müssen. Unten Leitungen, oben Menschen. Den Rest der Metropolisierung besorgten namhafte niederländische und internationale Architekturbüros: Meyer en Van Schooten Architecten mit De Nieuwe Bibliotheek, De Smaragd von Gigon und Guyer Architekten, De Citadel von Atelier Christian de Portzamparc, Utopolis von OMA, Lakeside von SeARCH, Schouwburg / Cultuurhuis von SANAA, Tarra Tower von MVRDV / PBT, das Urban Entertainment Centre von Alsop Architects.
Das Stadtresümee
Ein Showroom bzw. eine Showstadt der Architektur kann anstrengend, weil angeberisch wirken. Seht her, in unserem Zentrum haben wir mehr Zeitgenössisches als alle so genannten modernen Städte in Europa zusammengenommen. Aber genau diese kompromisslose Contemporary-Attitüde ist die Almere-DNS. Warum sollte man die Grachtengemütlichkeit kopieren wollen? Warum eine Altstadt-Kuschligkeit vorgaukeln, die nicht hierher passt? Und die signalisiert: ich mag lieber im Mittelalter leben. Oder zumindest in einer disneyisierten Rekonstruktionsbeklopptheit. Almere ist: Hier. Heute. Jetzt.
Im zweiten Teil gehen wir aus der OMA-Hügelstadt hinaus und schauen uns das Individuell-Kreative der anderen Stadtteile an. Denn auch das ist Almere: eigenwillig, liberal, frei. Wie war das noch mit der Schlaf- und Ausweichstätte für die 30 km entfernte Hafenstadt?
Almere ist: Hier. Heute. Jetzt.
Unsere Architekturreise wurde unterstützt von: "Niederländisches Büro für Tourismus & Convention" (NBTC) und "VVV Almere".
Almere
Siebtgrößte Stadt der Niederlande mit 200.000 Einwohnern und knapp 250 Quadratkilometer Fläche, 48 Prozent sind Wasserflächen, 52 Prozent ist Land. Die gesamte Stadt liegt zwei bis fünf Meter unter dem Meeresspiegel. 42 km Küstenlinie mit ausgedehnten Wasser- und Naturschutzgebieten und Beständen an Rothirschen, Heckrindern, Füchsen und Seeadlern. 20 Prozent der Einwohner sind in Almere geboren. Die ersten Häuser gab es 1975 in Almere Haven. Architekt Joop van Stigt hat die ersten Hausgruppen mit je 20 bis 25 Häusern geplant. 1986 hatte der Ort mit Haven, Stad und Buiten drei Stadtteile und insgesamt bereits 50.000 Einwohner. Zur 40 Jahresfeier 2014 hatte sich diese Zahl vervierfacht. Für 2030 sind 350.000 Einwohner vorausgesagt. Da Almere bis in die 1990er kein echtes Stadtzentrum hatte, entwickelte Rem Koolhaas mit OMA den Masterplan Stadshart mit dem komplett neuen Kern. Dieser Plan wurde von 1994 bis 2010 umgesetzt.
Flevoland
Die zwölfte und jüngste Provinz der Niederlande. Sie wurde am 1. Januar 1986 aus der Öffentlichen Körperschaft Südliche Ijsselmeerpolder (Ost- und Südflevoland) und dem Nordwesten der Provinz Overijssel (Noordoostpolder) neu gebildet. Flevoland besteht fast ausschließlich aus Land, das erst im 20. Jahrhundert dem Ijsselmeer abgewonnen wurde. Der Osten der Provinz ist landwirtschaftlich geprägt, der Westen entwickelte sich mit Almere zu einer Erweiterung des Einzugsgebiets von Amsterdam. Hauptstadt Flevolands ist Lelystad. Den Namen hat Flevoland von der Bezeichnung der Römer für die Zuiderzee, lacus flevo. Fast das gesamte Gebiet entstand durch Trockenlegung (Neulandgewinnung) von Teilen der vormaligen Zuiderzee im Rahmen der Zuiderzeewerke, ein Projekt, dessen Idee bis auf das Jahr 1891 zurückgeht. – Wikipedia
VVV Almere
Tourismusbüro in der Innenstadt, gegenüber des Kinos Utopolis. Öffnungszeiten: Mo. 13–18 Uhr, Di. 10–18 Uhr, Do. 10–21 Uhr, Sa. 10–17 Uhr So. 12–17Uhr. Kontakt: +31 36 548 5041 und info@vvvalmere.nl. Adresse: De Diagonaal 199, 1315 XM Almere-Stad, Flevoland.
Anreise
Zugfahrt von Amsterdam kommend zwischen 20–30 Minuten Dauer. Mit dem IC Sprinter ist es am schnellsten.
Rundgang
Wer wenig Zeit hat, kann den Rundgang durch die Innenstadt von Almere an einem Nachmittag gut absolvieren. Wenigstens 3 Stunden sollten eingeplant werden. Wer länger bleibt, hat die Chance weitere Perlen der Almere-Gestaltung zu erkunden, wie z. B. Almere Haven und De Realiteit.