
Am 5. September 1944 versank Le Havre in Schutt und Asche. Der alliierte Bombenhagel machte innerhalb weniger Tage aus dem historischen Zentrum „table rase“. Rund 5.000 Menschen starben, 12.500 Wohnhäuser waren vernichtet, 80.000 Einwohner obdachlos. Vom Bahnhof war das Meer zu sehen, 150 Hektar Trümmer, Le Havres Geschichte physisch ausradiert. Anstatt wie in vielen anderen europäischen Städten (un)kritisch zu rekonstruieren, entschied die französische Regierung an diesem transatlantisch wichtigen Knotenpunkt eine radikal moderne Modellstadt zu errichten. Vorrang hatte der Wohnungsbau, aber auch Schulen, Kulturstätten, Kirchen, Verwaltungseinrichtungen, sowie Hafenanlagen und die gesamte Infrastruktur mussten innerhalb kurzer Zeit neu errichtet werden. Als Planer wurde der damals 71jährige Auguste Perret engagiert. Mit einer Vielzahl öffentlicher Bauten in Frankreich, Großbritannien und Algerien war der Architekt, Stadtplaner und Bauunternehmer bereits ein geschätzter Mann. Noch vor Kriegsende hatte er zusammen mit ehemaligen Schülern das „Atelier Perret“ gegründet. Ihr Ziel war die Entwicklung eines ganzheitlichen Ansatzes zum Wiederaufbau zerstörter Städte. Mit seinen beiden Brüdern Claude und Gustave und einem Team von 60 Architekten entwickelte er zwischen 1945 und 1954 dann das neue Le Havre. Beinahe zwei Generationen sollte es jedoch dauern, bis die besondere Qualität dieser leuchtenden Stadt entsprechend wertgeschätzt wurde. Neben Oskar Niemeyers Brasília (der mit dem Le Volcan auch in Le Havre gebaut hat) zählt das Zentrum der Hafenstadt seit dem 15. Juli 2005 zu einem von zwei Stadtensembles des 20. Jahrhunderts, die in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen wurden. Damit wurde Perrets Meisterwerk noch vor den Bauten seines ehemaligen Mitarbeiters Le Corbusier als erstes Beispiel moderner französischer Architektur mit dem Welterbetitel ausgezeichnet.
"Die Größe des Wiederaufbaus sowie die ausgeglichene Planung machen Le Havre zu einem Symbol für alle anderen wiederaufgebauten europäischen Städte."
Aus der Begründung des Welterbekomitees, 2005
Das monumentale Dreieck
Am besten lässt sich die Idee des neu errichteten Stadtzentrums vom Turm des Rathauses überblicken. Es ist das zweithöchste Gebäude der Stadt. Um an die Tradition der Handels- und Hafenstadt anzuknüpfen, positionierte er die wichtigsten Gebäude an gleicher Stelle wie vor dem Krieg. Auch die historischen Hafenbecken blieben bestehen. Drei große Straßen begrenzen Perrets monumentales Dreieck. Im Norden die Avenue Foch, eine von saftig grünen Alleen und siebenstöckigen Wohnblocks gesäumte Prachtstraße. Sie verbindet den Rathausplatz als neue Mitte der Stadt im Osten mit der Küste und der Porte Océane (Tor des Meeres) im Westen. Zwei Hochhäuser rahmen hier perspektivisch eindrucksvoll den Blick auf den Atlantik einerseits und markieren den Meereseingang zur Stadt hin andererseits. Aus der Ferne streng symmetrisch, entfaltet sich der Raum aus der Nähe erstaunlich komplex. Vom Rathaus führt die Rue de Paris zum südlich gelegenen Hafenbecken. Alle Straßen zwischen diesen beiden Achsen sind streng orthogonal angelegt. Einzige Ausnahme bildet der Boulevard François-1er. Er verläuft als Hypotenuse des Dreiecks entlang der Küstenlinie. Was auf den ersten Blick nüchtern und eintönig wirkt, entfaltet sich beim Durchstreifen der Straßen als vielfältig und bunt. Sequenzen weitläufiger Alleen, autofreier Flanierzonen und belebter Boulevards, wie die arkadengesäumte Rue de Paris, variieren mit kleinen Gassen, Parks, Stadtplätzen und halböffentlichen Höfen. Alles ist präzise ausformuliert. Von Monotonie keine Spur. Auch die Baukörper variieren in der Höhe gerade so proportioniert, das sie nicht einschüchternd wirken. Bei jedem Schritt durch die Stadt sind die Prinzipien des "Atelier de la Reconstruction du Havre" zu spüren. Hell, luftig, großzügig und menschenwürdig sollte die Stadt der Zukunft sein.









Die Wohninseln
Der Masterplan bezog sich nicht nur auf den Grundriss der Stadt. Um die Einheitlichkeit der Quartiere zu gewährleisten, wurde ein radikal modernes Leitbild verfasst, an das sich die verschiedenen Architekten der neu entstandenen Parzellen, der halboffenen Wohninseln, zu halten hatten. Schließlich galt es zügig und günstig zu bauen. Baumaterial war zudem Mangelware. Wie auch der Stadtplan basiert jeder Baukörper auf einem klaren orthogonalen Raster. Das Achsmaß ist teilbar durch zwei und drei und beträgt immer 6,24 Meter. Entsprechend den Grundsätzen der Moderne war es den Planern wichtig, dass die Tragstruktur, bestehend aus vorgefertigten Betonbalken, Pfeilern und Dachstützen, stets ablesbar blieb. Trotz strenger Symmetrievorgaben, des immer gleichen Säulen- und Geschossaufbaus (Erdgeschoss, Zwischengeschoss, Noble Etage) wirken die Bauten erstaunlich individuell. Mal springen die unteren Etagen zurück und bilden einen öffentlichen Arkadengang, mal befinden sich Terrassen über dem Zwischengeschoss. Auch die Anordnung der Balkons und Loggien variiert. Die Fenster, so die Vorgabe, sollten hingegen immer raumhoch sein, um möglichst viel Licht und Luft in die Räume zu lassen. Aufgrund der Verknüpfung einer streng strukturalistischen Bauweise und antiker Anleihen wie Verzierungen und Ornamentik wird diese Stilrichtung auch als struktureller Klassizismus bezeichnet. Stahlbeton wurde zu dieser Zeit fast ausschließlich für Industriebauten verwendet. Perret war es, der das Bauen mit Beton perfektionierte, noch viel stärker als die beiden anderen Betonbaumeister seiner Zeit Le Corbusier und Plečnik. Perrets nicht gerade bescheidene Gleichung hieß:
"Mein Beton ist schöner als Stein, dessen Schönheit die edelsten Baumaterialien übertrifft."
Perret ließ den Schutt der kriegszerstörten Häuser zermahlen, streng getrennt nach Farbe und Struktur. Unter Beimischung von Glassplittern, Kies und Sand, entstanden ganz unterschiedliche Betonoberflächen, die er wie sonst auch Naturstein bearbeiten ließ. Poliert, scharriert oder gestockt leuchten die inneren und äußeren Fassaden Le Havres in verschiedenen Farben. Wie wichtig der behutsame Umgang mit den Details ist, zeigt sich an einigen Gebäuden, die nach Perret entstanden sind. Plötzlich wirken die Stadträume wirklich nüchtern und öd. Besonders gut gelungen ist das Quartier Immeubles sans affectation individuelle (I.S.A.I.) um die Place de l'Hôtel-de-Ville, das Perret noch vollständig selbst entworfen hatte.
"Die Architektur herrscht im Raum, sie begrenzt ihn, umschließt ihn, sperrt ihn ein. Sie kann magische Orte zaubern, Werke des Gedankens."
Auguste Perret











Die Wohnungen
Die Standardwohnungen im I.S.A.I. sind noch immer zeitgemäß, von der 50er Jahre Einrichtung und dem Kühlschrank mal abgesehen. Beim Betreten der Musterwohnung bin ich überrascht von der Großzügigkeit und Helligkeit des Apartments. Alles fließt. Alles ist aufeinander abgestimmt, die Falt- und Schiebewände, die raumbegrenzenden Möbel, das warme Parkett am Boden. Perrets Gedanke der Modulbauweise reichte bis in die Ausstattung der Wohnungen. Nur eine fein gearbeitete Betonstütze im Eingangsbereich ist tragend. Alle anderen Wände innerhalb der Wohnungen wurden in Leichtbauweise errichtet. Die Musterwohnungen der Fünfziger wurden von Perrets Team sorgfältig ausgestattet. Mit René Gabriel und Marcel Gascoin engagierten sie zwei Wegbereiter des französischen Designs, das zu dieser Zeit sehr stark skandinavisch beeinflusst war. Einige dieser Möbel sind auch heute noch in dem zu besichtigenden Perret Apartment zu sehen. Einen kleinen Haken scheinen die Apartments aber doch zu haben, wie wir von unserer kundigen Begleitung und ehemaligen Bewohnerin Séverine erfahren: "Die Heizung war so laut, ich glaubte eine Maschine zum Gras mähen fahre durch die Wohnung! Ansonsten war es traumhaft."








Die Kirche Saint-Joseph
Was für eine Erscheinung. Ihre monochrome Präsenz ist überwältigend. Saint-Joseph ist das symbolträchtigste Gebäude Le Havres, ein weithin sichtbares Mahnmal des Wiederaufbaus, ein geistiger Leuchtturm des Glaubens. Alleine die Fakten sprechen für sich. 700 Tonnen Stahl wurden verbaut, 50.000 Tonnen Beton. 71 Pfähle wurden 15 Meter tief in den Boden gerammt und bilden das Fundament des Kirchenbaus. Der quadratische Grundriss, in Form eines griechischen Kreuzes, hat eine Seitenlänge von 40,6 Metern. Vier freistehende Pfeilergruppen tragen den achteckigen Laternenturm. Die volle Wucht trifft mich aber erst beim Betreten des Raums. Über dem dunklen Betraum entfaltet sich ein wahrer Lichtstrudel. Die Glaskünstlerin Marguerite Huré spielt mit der Bewegung der Sonne und kleidet Perrets nüchternen Beton im Innern in ein flirrendes Gewand aus Farben. Huré verwendete ausschließlich mundgeblasenes Glas. Die Anordnung der 12.768 Zierfenster ist streng geometrisch und basiert auf sieben Farben in rund fünfzig Abstufungen: orange, gelb, grün, violett, rot, blau, weiß.
"Die Kunst des Kirchenfensters ist eine Allianz mit dem Spiel des Himmels."
Charles Cournaye, Maler









"Aufgrund der Größe des Wiederaufbaus von Le Havre und der zahlreichen mitwirkenden Architekten, die zu Perrets Bauprinzipien und neuesten Technologien standen, ist die Stadt zu einem riesigen Experimentierfeld für eine neue und moderne Gestaltung mit einzigartiger Konzeption geworden. Der Gedankenaustausch zwischen Perrets Schule und jungen von Le Corbusiers Theorien beeinflussten Architekten, hat ein Stadtgebilde geschaffen, das Eigenschaften einer klassischen mit einer modernen Stadt verbindet."
Aus der Begründung des Welterbe Komitees, 2005

Unsere redaktionell unabhängige Recherchereise wurde von Le Havre Tourisme unterstützt und ermöglicht.