Le Havre. Frankreich. Die normannische Hafenstadt blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück, in der sie sich nach mehreren zeitlich aufeinander folgenden Zertrümmerungen immer wieder neu erfinden musste. 2017 zelebriert sie ihr 500-jähriges Jubiläum. Unsere mehrteilige Reportage führt in eine im doppelten Sinne gezeichnete Planstadt, vielschichtig, frisch und leuchtend. In unserem zweiten Reportage-Teil gehen wir auf historische Spurensuche im alten und neuen Le Havre.
Gehäutet, geknetet, geschunden. Im Laufe ihrer 500 jährigen Geschichte musste sich die normannische Hafenstadt immer wieder neu erfinden. König Franz I. hatte sie im Jahre 1517 auf Anregung des Admirals Bonnivet als Kriegshafen Franciscopolis gegründet. Später hieß sie Le Hable de Grâce (Der Hafen der Gnade). Mit der Gnade war es schnell vorbei. Infolge der französischen Revolution rollte zunächst der Kopf des Königs, später entfiel der Namenszusatz. Von nun an hieß sie einfach Le Havre. Heftige Sturmfluten und kriegerische Auseinandersetzungen warfen die Entwicklung die Stadt am Anfang der Seine Mündung immer wieder zurück. Dennoch entwickelte sich das kleine Bauern- und Fischerdorf schnell zum zweitwichtigsten Hafen der Grande Nation. Mit dem Sitz der Französischen Westindienkompanie und dem damit verbunden Sklavenhandel begann im 18. Jahrhundert das unrühmlichste, wirtschaftlich aber auch erfolgreichste Kapitel Le Havres. Bevölkerung und Wohlstand wuchsen. Ludwig XVI. entschied schließlich den Neubau der Stadt. Aber erst unter Napoleon III. wurden die Stadtmauern umfangreich geschliffen, umliegende Ortschaften eingemeindet und große Boulevards angelegt. Le Havre entwickelte sich zu einer Industriestadt mit einem weitverzweigten transatlantischen Handelsnetz für Rohwaren, wie etwa Zucker, Baumwolle, Gewürze und Kaffee. Anfang des 20. Jahrhunderts war Le Havre schließlich Europas größter Import-Hafen für Kaffee. Auch von der wachsenden Passagierbeförderung im Schiffsverkehr und vom Boom der Seebäder Anfang des 20. Jahrhunderts konnte die Region um Le Havre zunächst profitieren. Eines der wenigen verbliebenen Beispiele dieser Zeit ist das neoklassizistische Hotel Nice Havrais – Georges Dufayel im benachbarten Sainte-Adresse. Im ersten Weltkrieg weitgehend verschont, ging die Stadt im zweiten Krieg fast vollständig im Bombenhagel unter. Die Deutschen hatten hier eine Garnision als Teil des Atlantikwalls errichtet. Wie überall hatten Résistance und Bevölkerung unter der Repression und Verfolgung der Nazis zu leiden. Im September 1944 setzten alliierte Luftschläge dem Terror ein Ende, in deren Folge rund 5.000 Menschen starben, 12.500 Wohnhäuser vernichtet und 80.000 Einwohner obdachlos wurden. Auf Anweisung der französischen Regierung wurde das Stadtzentrum durch Auguste Perret und sein Atelier als radikal moderne Modellstadt wiedererrichtet. Le Havres monumentales Zentrum gilt heute als Mahnmal des Krieges und zählt zu einem von zwei Stadtensembles des 20. Jahrhunderts, die in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen wurden. Trotz wirtschaftlichen Schwierigkeiten infolge der Ölkrise ist Le Havre weiterhin der zweitgrößte Hafen Frankreichs und mit 193.000 Einwohnern die größte Stadt der Normandie. Aber sie ist mehr als eine Anlaufstelle für Containerschiffe und Kreuzfahrtdampfer, mehr als die gebaute Vision des Beton-Poeten Auguste Perret. Mit seinen Kieselstränden, schroffen Steilküsten und sanften Erhebungen im Hinterland ist sie auch ein bezaubernder Ort mit einer ausgezeichneten Lebensqualität. Kreative und Kunstschaffende nennen ihren Ort “LH”, eine spielerisch-ironische Referenz an NYC (New York City) oder an LA (Los Angeles). LH ist heute eine pulsierende Mini-Metropole mit einem lebendigen Kunst- und Kulturleben einer jungen Generation, die einmal von Le Havre wegging, um zurückzukehren, mit dem Wunsch und den Ideen hier etwas zu bewegen.
"Schauen sie hin. Leben sie in dieser Stadt. Sie hat ihnen viel zu zeigen. Sie kann sie überraschen in einer Größenordnung, die mich immer noch verblüfft. Und sie hat 1000 Sachen zu sagen, unserem Land und der Welt."
Édouard Philippe, Premierminister Frankreichs und ehemaliger Bürgermeister Le Havres
Vom 27. Mai bis zum 5. November 2017 feiert Le Havre ihr 500-jähriges Jubiläum. Das Festival Un été au Havre 2017 (Ein Sommer in Le Havre 2017) steht ganz im Zeichen der Kunst und Kultur. Unter der künstlerischen Leitung des Franzosen Jean Blaise verwandeln nationale und internationale Künstler, Designer, Grafiker, Choreografen, Regisseure und Schriftsteller die Hafenstadt in eine riesige öffentliche Bühne. Mehrere Rundgänge führen durch verschiedene Stadtteile zu einer ganzen Reihe städtischer Veranstaltungen und dreißig Freiluft-Installationen. Gemeinsam mir der Fotokünstlerin Bettina Cohnen bin ich entlang der vorgeschlagenen Parcours anlässlich des Festivals den historischen Spuren gefolgt. Wir haben uns treiben lassen und sind auf Verblüffendes, Verträumtes und Wunderliches gestoßen.
"By constucting objects that are hyperrealist yet clearly fictional, and confronting them with the public space, Julien Berthier (...) uses irony (...) to encourage broader reflection on our society."
"Yet the city needs tob e understood, to be loved, to be put on stage, and we need to identify the people that give it all their energy and their talent, we need to be bold, but fair, with the city, to bring out all its strangeness and its evident poetry."
Jean Blaise, Art director Un Été au Havre 2017
Unsere redaktionell unabhängige Recherchereise wurde von Le Havre Tourisme unterstützt und ermöglicht.