Biennale d’Architecture d’Orléans – Traumdeuter
Reportage:„Walking to someone else’s dream“ ist der Titel der erstmalig stattfindenden Biennale d'Architecture d'Orléans, die noch bis zum 1. April 2018 an der Loire zu sehen ist. Am Eingang des FRAC Centre-Val de Loire, dem Hauptaustragungsort der Schau, weht eine blaue Fahne. Für die Neuinterpretation des nationalen Symbols wählte der tunesische Künstler Nidhal Chamekh bewusst ein Material, das in den zahlreichen Flüchtlingslagern der Welt als Behausung dient. Wie deren Träume auf eine bessere Zukunft, ist auch sie heftigen Kräften ausgesetzt, die an ihr zerren und sie im Laufe der Zeit zu zersetzen drohen. Die Biennale zeigt zudem seine Arbeit „Calais, études et fragments de mémoires“ über den berüchtigten „Dschungel von Calais“. Mehr als 9.000 Geflüchtete hofften hier im Sommer 2016 auf einen Neuanfang. Auf dem Gelände einer ehemaligen Mülldeponie entstand innerhalb weniger Monate eine selbst organisierte Siedlung mit rudimentärer Infrastruktur. Chamekh dokumentierte diesen Zustand mit Berichten, Fotografien und detaillierten Zeichnungen. Ohne zu romantisieren, zeigt er in seinen fünf Assemblagen (Kunstwerke mit reliefartiger Oberfläche) „common place“, „share“, „multiply“, „attach“ und „steal“, dass man trotz großer Probleme aus den flüchtigen Strukturen dieser informellen Siedlungen lernen kann. Teil seiner Arbeit ist eine Langzeitaufnahme von der Räumung der Siedlung. In ihrem Zentrum steht ein brennender Container mit der Aufschrift: „Never give up“. Für viele wird es eine Utopie bleiben.
FRAC Centre-Val de Loire: „Never give up“ von Nidhal Chamek
Etwas poetischer beginnt der Rundgang der Schau im Inneren. Damani und Galofaro wählten eine Arbeit aus der umfangreichen Sammlung des FRAC von 1968. Chanéacs lila Stadtvision „Ville alligator“ ist organisch, evolutionär und mobil. Es ist schwer zu sagen, ob es sich hierbei schon um Kunst oder noch um architektonische Theorie handelt. Die Protagonisten jener utopistischen Bewegung, wollten vor etwa 50 Jahren die Bedeutung von Bauen, Raum und Gesellschaft gründlich verändern. Eine amorphe Zellenstruktur erhebt sich über dem Boden. Industriell vorgefertigte Module sollten flexibel kombiniert und individuell ausgestaltet werden. Alles war auf das menschliche Maß zugeschnitten.
Die Kuratoren begreifen ihre Biennale als Ort des Zweifelns, als einen Ort, an dem Unterschiedliches, scheinbar Widersprüchliches und sich Widerstrebendes miteinander in Kontakt treten, als einen Ort an dem man über Raum nachdenken kann. So schließen sich Arbeiten junger Kreativer an. Die jordanisch-palästinensische Baukünstlerin Saba Innab überzeugt mit ihrer architektonisch ästhetischen und zugleich kritischen Studie „Tomorrow, Poetry Will (Not) Be The House of Life“. Mit ihren modellhaften Fragmenten der Architekturmoderne verweist sie auf das Schicksal palästinensischer Städte und ihrer Bevölkerung. Daneben stehen Arbeiten des spanischen Architektur-Kollektivs Ensamble Studio. Die vier ausgestellten Betonstelen versinnbildlichen deren prozesshaftes Arbeiten. Versuch und Irrtum bestimmen deren Architektur. Dass sie auch so bauen, belegt ein begleitender Film im angrenzenden Treppenraum. Hinzu kommen erfrischenderweise weniger bekannte spanische Utopisten, wie Juan Navarro Baldeweg, Andrès Perea Ortega oder José Miguel de Prada Poole. Verblüffend. Verbindet man die utopische Architekturmoderne der sechziger und siebziger Jahre doch eher mit Großbritannien und Frankreich. Damani kündigte in unserem Gespräch bereits an, im Anschluss an die Biennale muss unbedingt eine Schau über spanische Utopisten her. Natürlich sind auch bekannte Metabolisten und Bau-Utopiker vertreten. Hier und da geht es vertraut kugelig zu. Man sieht schwebende Raumblasen, Gitterstrukturen und aufgeblähte Häuser, Zeichnungen und Modelle von Buckminster Fuller, Constant, Peter Cook, Claude Parent und Haus Rucker-Co. Sie stammen größtenteils aus der eigenen Sammlung des FRAC. Beim Durchschreiten der Ausstellung drängt sich geradezu die Frage auf: Warum ist vieles heute so belanglos und kastig? Wo ist das Neugierige, Aufregende, Bewegende geblieben? Wo der Erfindungsgeist und Mut in der Architektur und ihrer Theorie? Vermutlich weil es nicht mehr gemeinsam gedacht wird.
Gleich zwei Franzosen dieser Strömung ist eine Einzelschau gewidmet. Im FRAC Centre – Val de Loire ist eine Retrospektive des Architekten, Stadtplaners und Szenografen Patrick Bouchain zu sehen. Die Monographie blickt zurück auf vier schöpferisch ergiebige Jahrzehnte. Sie würdigt seine Methodik, zeigt Jahre des Lernens und Lehrens und unterstreicht sein politisches Engagement für die Architektur. Besondere Aufmerksamkeit wird seinen wunderbaren Zeichnungen gewidmet. Eine umfassende Darstellung maßstabsgetreuer Modelle seiner Projekte zeigt das volle Ausmaß seines Werks. Beim Betreten des Raums gerät man ins Staunen. Auf den ersten Blick gleicht er beinahe einem Kuriositätenkabinett. So prall und dicht sind die zusammengetragenen gebauten und ungebauten Visionen.
Neben den acht Stationen in Orléans, gibt es vier weitere Ausstellungsorte in der Region Centre - Val de Loire. Das Les Tanneries – Centre d’Art Contemporain in Amilly zeigt erstmalig eine Hommage an Guy Rottier. Seine vorausschauenden Ideen für ökologische Architektur und solaren Urbanismus ebneten den Weg für viele zeitgenössische Entwürfe. Sei es in den Bereichen Tarnung, evolutionärer Wohnraum oder umweltfreundliche Entwicklung. Da stapeln sich schon mal Busse zu Baumhäusern und Hubschrauber werden zum Wohnmobil. Radikalräume, poetisch und witzig.
Der Ausflug nach Amilly lohnt sich, besonders auch wegen der Arbeiten von Thomas Raynaud, Suzanne Husky und des Osloer Architekturstudios Manthey Kula. Deren Installation „ARCHIPELAGO – Architecture from Solitude“ wurde als eine Landschaft konzipiert, die das Schicksal von fünf historischen Figuren darstellt, die von Exil und Isolation betroffen sind. Besonders die Umsetzung mittels minimalistischer Zeichnungen und Modelle überzeugt. 2015 schlug ihr Entwurf des Fährterminals in Forvik (Norwegen) hohe Wellen.
So unterschiedlich die Perspektiven, so verbindend sind die Arbeiten. Die exzellent kuratierte Ausstellung ermöglicht den Besuchern im Laufe des Rundgangs unzählige Perspektivwechsel. Sie ist anregend, aufregend und zeigt, dass Visionäres gegenwärtig sein kann und zugleich mehrere Jahrzehnte überdauern kann. Und sie zeigt, wie vielfältig und wahnwitzig man über Raum nachdenken kann.
Atout France und Comité Régional du Tourisme Centre – Val de Loire haben uns zu der redaktionell unabhängigen Recherchereise eingeladen.
Biennale d'Architecture d'Orléans
Kuratoren: Abdelkader Damani und Luca Galofaro; 71 KünstlerInnen und ArchitektInnen; 1 Ehrengast: Patrick Bouchain; 1 Sondergast: Guy Rottier; 1 Fokus: Demas Nwoko; 2 Artists-in-Residence: Mengzhi Zheng - CHD Daumezon, Fleury-les-Aubrais, Saba Innab - Transpalette / La Box, Bourges; 8 Ausstellungsorte in Orléans: Les Turbulences - Frac Centre-Val de Loire, La Médiathèque, La borne, La rue Jeanne-d'Arc, Le parvis de la cathédrale, La Collégiale Saint-Pierre-le-Puellier, Les Vinaigreries Dessaux, Le Théâtre; 4 Ausstellungsorte in der Région Centre-Val de Loire: Les Tanneries – Centre d’art contemporain (Amilly), Transpalette – Centre d’art contemporain (Bourges), Galerie La Box - Ensa Bourges (Bourges), Centre hospitalier Départemental Daumézon; 6 Symposien: Mental Land, Facing Forward: Africa and Architectural Imaginary - Dialogue with Demas Nwoko, Alternative and parallel: walking through someone else’s dream - Inevitability of culture, limits of counter-culture?, News from utopia: cartography of architectural research - International Schools of Architecture Symposium, Is it still possible to be a stranger?, Land of dreams to dreamland: Dream of a state to a state of a dream
Abdelkader Damani
ist seit dem 1. September 2015 Direktor des FRAC Centre-Val de Loire und künstlerischer Direktor der Biennale d'Architecture d'Orléans. Damani hat in Oran (Algerien) Architektur studiert. Bei seiner Ankunft in Frankreich im Jahr 1993 studierte er Kunstgeschichte und Philosophie an den Universitäten Lyon 2 und 3. Nachdem er im Centre Culturel de Recontre de la Tourette für Kunst- und Architekturprojekte verantwortlich war, leitete er von 2007 bis 2015 das Programm "VEDUTA" auf der Biennale für zeitgenössische Kunst in Lyon. 2014 war er Co-Kurator der Dakar Biennale (Our Common Future, DAK'ART 2014) und Kurator des Festivals für zeitgenössische Kunst von Oujda in Marokko.
Luca Galofaro
ist Architekt und Professor. Als Gründer der Agenturen LaN (1997-2015) und LGSMA (2016) hat er eine experimentelle Architekturpraxis entwickelt, die nicht als festes Objekt, sondern als System fortlaufender Beziehungen und Austauschprozesse gesehen wird. Sie ist offen für theoretische, redaktionelle und kuratorische Forschung. Seit 2015 ist er außerordentlicher Professor an der Universität von Camerino und Gastprofessor an der Confluence in Lyon, der Bartlett School in London und der Ecole Spéciale d'Architecture in Paris. Galofaro erhielt einen Master in Weltraumwissenschaften an der International Space University, UHA Huntsville Alabama. Er gewann 2006 die Goldmedaille für italienische Architektur, wurde 2001 für den Iakov Chernikov Preis nominiert und war 2011 Finalist beim Aga Khan Award.
FRAC Orléans
Adresse: 88 Rue du Colombier, 45000 Orléans, Tel.: +33 (0)2 38 62 52 00
Les Tanneries – Centre d’Art Contemporain
Adresse: 234 Rue des Ponts, 45200 Amilly
La Box et Transpalette
Adresse: Friche l’Antre-peaux, 26 route de la Chapelle, 18000 Bourges
Le Centre Hospitalier Départementale Georges Daumezon
Adresse: 1 route de Chanteau, 45400 Fleury-les-Aubrais
Foundation du doute
Adresse: Fondation du doute – Ben & Fluxus collection, 14 Rue de la Paix, 41000 Blois, Tel.: +33 (0) 2 54 55 37 45