Mériadeck – Wunschplatte
Auf Reisen /Hier gibt es keine Pittoreske und keine Postkartenmotive wie am „Hafen des Mondes“, dem ringförmigen, historischen Zentrum von Bordeaux. Hier stehen die einzigen Hochhäuser der Innenstadt, ein Parallelort des unbordelaisen Chics mit dem rauen und unerschütterlichen Charme einer Stadtvision des 20. Jahrhunderts. Das Einkaufs- und Verwaltungsviertel Mériadeck mit seinen Türmen, Terrassen, den autofreien Fußgängerwegen über den Straßen ist ein Urbanismus-Ideal der Nachkriegsära mit einer Architektur zwischen brutalistisch-kühn und einer windigen Weite.
Die Symmetrie der neuen Stadt
Wie in Firminy war es ein Bürgermeister mit einer Vision, der mit Le Corbusiers Plänen einen neuen Stadtteil planen und bauen ließ. In Bordeaux hieß das Stadtoberhaupt Jacques Chaban-Delmas, der das Bürgermeisteramt der neuntgrößten Stadt Frankreichs fast ein halbes Jahrhundert inne hatte. Zu seinen Ehren tragen hier ein großes Sportstadion und die 2013 fertiggestellte, hochaufragende Hubbrücke über den Fluss Garonne seinen Namen. Groß und ambitioniert war auch der Plan für Mériadeck, einem dicht und kleinteilig bebauten Quartier mit damals über 10.000 Menschen. Als ein einzigartiges Universum wurde das 30 Hektar große und einstige Sumpfgebiet beschrieben, ein „Goldenes Dreieck“ mit über 100 Bordellen, zahlreichen Lokalen, Werkstätten und vielen Problemen. Kriminalität und Krankheiten waren nur zwei davon. Ab den 1950er-Jahren veränderte der Bürgermeister Jacques-Chaban Delmas das Areal radikal und im Sinne von Le Corbusier und der Charta von Athen: die Trennung der Funktionen, von Straßen und Fußgängerbereichen mit Hochhäusern als zentralen Elementen der Architektur.
Stadtplaner Jean Royer entwarf ein Areal mit einem rasterartigen Grundriss und unterschiedlichen Bereichen, kreuzförmig angeordneten Türmen. Alles sollte symmetrisch, klar und weitläufig sein. Die Trennung von Fußgänger- und Autoverkehrsströmen erreichte er mit der Schaffung einer großflächigen Platte: oben die Passanten und Geschäfte, in der Mitte die Verkehrswege, Gebäudetechnik und Dienstleistungsbereiche, ganz unten schließlich die öffentlichen Parkplätze. Die Architekten Jean Willerval und Paul Lagarde koordinierten die Planung der einzelnen Bauten. Für die Umsiedlung von 2.500 Familien, dem Abriss von fast 900 Gebäuden des knapp 28 Hektar großen Quartiers benötigte die Stadt 16 Jahre. Das neue Mériadeck entstand mit Wut, Trauer und Protesten der alten Mériadeck-Bewohner.
Die Neuerfindung von Bordeaux
Die meisten Gebäude wurden zwischen 1970 und 1985 gebaut. 2008 und 2012 erfolgte eine Neugestaltung, in dessen Verlauf die letzten Gebäude fertiggestellt werden. Derweil war der Fokus schon längst woanders. Bordeaux hat sich in den vergangenen Jahren auf die Bassins à Flot (die Flutbecken in einem 160 Hektar großen Gebiet) im Norden bis hin zum Euratlantik-Viertel im Süden der Stadt (auf über 700 Hektar) konzentriert. Die Großbaustellen sind Teil von „Bordeaux 2030“, einer architektonischen und städtebaulichen Umwälzung der Stadt. Mériadeck soll in diese Planungen integriert werden. Das Quartier hat die jetzige Turboentwicklung im Norden und im Euratlantik-Viertel vorweggenommen und sich weiterentwickelt.
Mériadeck hat durch die Neugestaltungen der letzten Jahre ein grüneres, zugänglicheres Aussehen bekommen. Ein Einkaufszentrum, die Bibliothek und die Anbindung mit Hilfe der Straßenbahnlinie A an andere Stadtteile hat zur Öffnung beitragen. Bei unserem Besuch des Quartiers an einem Werktag fiel die Mischung aus urbaner Weitläufigkeit und dörflicher Hochhausleere auf. Geschäftsleute waren unterwegs wie auch Seniorinnen und Schüler, dazwischen Jugendliche und Skater, Frauen mit Einkaufstrolleys und Hotelgäste auf dem Weg in einen der Türme – Alltag also in einem Stadtviertel.
Ein weiteres Mériadeck-Merkmal, das die heutige, autofreie (Innen)Stadt mancherorts schon vor Jahrzehnten vorweggenommen hat: die zweite Ebene explizit für Fußgänger*innen, hoch über der Straße. Ein ungewohntes Gefühl so mittendrin in der Stadt zu sein und zugleich über der Stadt flanieren zu können, umrahmt von Betonklötzen, die teils arg gealtert, teils in gutem Zustand sind. Was wiederum für die Kraft, Ausdauer und Beständigkeit der Mériadeck-Architektur spricht. Trotz jahrelanger Anfeindungen und Vernachlässigung hat sie überlebt und wurde zum Denkmal ernannt, Teil des Welterbes von Bordeaux. Der nächste Lebensabschnitt von Mériadeck hat erst begonnen.
Wir danken Nouvelle Aquitaine Tourisme und den Partnern Atout France und Bordeaux Tourism & Conventions für die Einladung zur redaktionell unabhängigen Presse- und Recherchereise!
Mériadeck
Großflächiges Verwaltungs- und Dienstleistungszentrum unweit des historischen Zentrums von Bordeaux, Frankreich. Der Name des Areals geht auf den Erzbischof von Bordeaux zurück, Ferdinand Maximilen Mériadec de Rohan (1738–1813), der für die Aufteilung des Gebiets sorgte, um den Bau des Palais Rohan (dem heutigen Rathaus) zu finanzieren. Das Quartier ist das einzige innerstädtische Hochhausensemble und geht auf umfassende Stadtplanungen zurück. Die Hochhäuser sind durch Terrassen und Gänge miteinander verbunden. Vor allem die Gänge und Wege bilden eine zweite, autofreie Ebene für Fußgänger. Der langjährige Bürgermeister Jacques Chaban-Delmas (1915–2000) von Bordeaux initiierte seine Vision von einem neuen Viertel im Geiste der Moderne ab Mitte der 1950er-Jahre. Für den Bau werden damals als marode Armenviertel angesehene Quartiere großflächig abgerissen. Der Architekt und Stadtplaner Jean Royer entwirft erste Konzepte, später dann in Zusammenarbeit mit dem Architekten Jean Willerval, der nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere Wiederaufbauprojekte in Frankreich und im Ausland realisierte. Die meisten Gebäude werden zwischen 1970 und 1985 gebaut. 2008 und 2012 erfolgt eine Neugestaltung, in dessen Verlauf die letzten Bauten fertiggestellt werden. Mériadeck umfasst 28 Hektar, 42 Gebäude mit 2.500 Einwohnern. 18.000 Angestellte arbeiten im Quartier.
Jean Royer
1903–1981, geboren in Boulogne-Billancourt, gestorben in Montagne-Saint-Emilion, Frankreich. Architekt und Stadtplaner, Studium der Architektur in Paris. Als Stadtplaner war er maßgeblich an Planungen für u. a. Bordeaux, Lüttich und Bourg-en-Bresse, Bougie (Algerien) beteiligt. Als Chefurbanist im Ministerium für Wiederaufbau und Städtebau (MRU) und Generalinspekteur für Stadtplanung der Regionen Centre und Aquitaine (1941–1954) entwarf er Pläne für den Wiederaufbau mehrere Städte nach dem Zweiten Weltkrieg.
Jean Willerval
1924–1996, geboren und gestorben in Tourcoing, Frankreich. Architekt und Professor, Studium in Lille und Paris. In Zusammenarbeit mit Pierre Rignols und André Lagarde realisierte Willerval mehrere Projekte in der Region Lille und Nord-Pas-de-Calais. Im Ausland arbeitete er am Wiederaufbauprojekt der Innenstadt von Beirut. Zu seinen wichtigen Projekten zählen das Gerichtsgebäude von Lille, Kirchen in Mons-en-Barœul, Tourcoing und Wattrelos, das Museum für zeitgenössische Kunst (LAAC) in Dünkirchen sowie mehrere Hochhausbauten. Von 1966 bis 1980 war er an der Umsetzung des Mériadeck-Projekts in Bordeaux beteiligt.