Backsteinexpressionismus – Ostmoderne
Perlen der Provinz :Am Anfang stand die Ablehnung. Nein, zu den Arbeitern und zu ihrer Beteiligung. Dabei ging es lediglich um Sport. Die Stadt Bielefeld verwehrte den Arbeitern den Zugang in die städtischen Turnhallen. So schufen sich die Arbeitersportler ihre eigene Infrastruktur. Was mit dem Bau von Sporträumen für die Arbeiterklasse begann, entwickelte sich zu der Wohnungsgenossenschaft Freie Scholle, die heute zu den größten der Stadt gehört. Besonders die beiden denkmalgeschützten Siedlungen Heeper Fichten und Siekerfelde haben Bielefeld mit ihrer Reformarchitektur baukulturell mitgeprägt. Die auch als Heimatarchitektur bekannte Richtung verband schlichte, teils strenge Formen mit regionalen Traditionen. Während Siekerfelde sachlich-symmetrisch angelegt ist, erscheint das Heeper Fichten-Ensemble expressionistisch-burgähnlich. Die Backsteinfassaden, Torbögen und Ausbuchtungen stehen einerseits für die Wehrhaftigkeit der Arbeiter, können andererseits als Referenz an eines der Wahrzeichen der Stadt verstanden werden: der Sparrenburg.
Ziegelstein-City mit Charakter
Der Bielefelder Architekt Gustav Vogt konzipierte die Anlage entsprechend der Wohnbedürfnisse der Arbeiterschaft und mit großzügigen, parkähnlichen Höfen. Hinzu kamen Gemeinschaftsbereiche wie ein Waschhaus mit Waschmaschinen und Heißmangeln, ein Kinderhort und Jugendheim mit Bibliothek und Lesezimmer. Das Friedrich-Ebert-Haus (früher Kulturzentrum, heute eine Gaststätte) plante Vogt mit Quadern, einem langgestreckten einstöckigem Bau, Flachdächern und vertikalen Fenstern. Wer die Siedlung zum ersten Mal besucht, sollte sich diesem Paradegebäude der Moderne von der Ziegelstraße und der Carl-Hoffmann-Straße nähern. Auf diese Weise wird Vogts Idee klar erkennbar: ein repräsentatives, helles Bauhaus-Gebäude umgeben von souveränen Arbeiterburgen.
Fast 100 Jahre nach ihrer Fertigstellung und mehreren Modernisierungen erscheint die Siedlung wie ein lebendiges Denkmal, das dem heutigen Wohnungsbau in nichts nachsteht, im Gegenteil. Die Neubauprojekte im Viertel sind hier alienhaft hineingekracht oder bestenfalls fremdkörperartig. Das wiederum hat der „5. Kanton“ mit seinem knapp 11.000 Menschen nicht verdient. Das Gebiet östlich der Innenstadt von Bielefeld befindet sich seit Jahren im Umbruch, zu sehen an mehreren Neubauten am Ostbahnhof und an der Bleichstraße, nur wenige hundert Meter von der Vogtschen Backsteinsiedlung entfernt. In diesem traditionellen Arbeiterviertel überwiegen die schlichten, schmucklosen Putzbauten mit einer gewachsenen, multikulturellen Gemeinschaft. Das Neue dagegen kann in seiner polierten Verschlossenheit und öden Kleinteiligkeit nicht mit der Raffinesse der grünen Ziegelstein-City von Gustav Vogt mithalten. Was für dessen Reformarchitektur spricht und gegen die aalglatten Antihafthäuser.
Freie Scholle
Eine der größten Wohnungsbaugenossenschaft in Bielefeld, gegründet 1911. Ihr Ursprung war der Turnhallenbau für Arbeiter. Heute hat die Freie Scholle über 8.000 Mitglieder und verwaltet 5.000 Wohnungen, darunter die Reformsiedlungen Heeper Fichten und Siekerfelde. Beide wurden nach den Entwürfen des Bielefelder Architekten Gustav Vogt errichtet.
Der 5. Kanton
ist ein traditionelles Arbeiterviertel und die Bezeichnung für das Gebiet östlich der Bielefelder Innenstadt. Es deckt das Areal zwischen der Heeper und Herforder Straße bzw. vom Ostbahnhof bis zu den Heeper Fichten ab. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebten hier Fabrik- und Landarbeiter, Tagelöhner, Weber, Spinner und Rentner. 1828 kam das Viertel als fünfter Kanton von der Gemeinde Heepen zur Stadt Bielefeld hinzu. Ab 1900 entwickelte sich der Kanton zu einer Hochburg der Arbeiterbewegung. Mehrere Neubaugebiete für Mehrfamilien- und Einfamilienhäuser zeugen vom Aufschwung des Viertels, das an vielen Stellen noch immer den "Arbeitergeist" hat. Der 5. Kanton ist mit mehreren Buslinien sowie einer Straßenbahnlinie an das Zentrum und die Stadtteile Heepen, Milse usw. angebunden. Knapp 11.000 Menschen wohnen hier (Stand 2019).