Jugendstil in Karlsruhe, Teil 1 –  Geometrisch und geschwungen

Belle Époque in der zweitgrößten Stadt von Baden-Württemberg.

Geometrisch und geschwungen Geometrisch und geschwungen

Jugendstil / Art deco — Deutschland | 

Mit fröhlichen Farben, schwungvollen Linien und fantasievollem Rankwerk erfrischte der Jugendstil die europäischen Städte um die Wende des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dabei war er nicht nur eine baukünstlerische Befreiung von der Gründerzeit vergangener Jahrzehnte. Er war zugleich ein Abbild des radikalen gesellschaftlichen Wandels dieser Zeit. Immer mehr Frauen verlangten nach gesellschaftlicher Teilhabe und politischer Mitsprache. So begannen neben den baulichen Symmetrien auch patriarchalische Strukturen aufzubrechen. Aus der Natur abgeleitete Linien und Geometrien eroberten die Fassaden und Innenräume der Stadthäuser. Kunst und Handwerk verschmolzen zu einer meisterhaften Symbiose. Überall in Europa entstanden „Gesamtkunstwerke“, die nicht einer geschlossenen Bewegung, sondern eher einer Reihe verschiedener Strömungen zuzuordnen sind. Was diese kunstgeschichtliche Epoche verband, war die Ablehnung des Historismus, der sich hauptsächlich der Stilmerkmale vergangener Jahrhunderte bediente. Ein übergeordnetes Motiv gab es nicht. Der Jugendstil unterschied sich von Land zu Land, von Stadt zu Stadt und von Künstler zu Künstler. Im Westen und Süden Europas war er schwungvoll und verspielt, gelegentlich auch überladen und ordinär. Im Norden und Osten hielt man es nordisch-nüchtern, streng und geometrisch. Häufig standen treibende Persönlichkeiten an der Spitze dieses neuen europäischen Bauens: Otto Wagner in Wien, Victor Horta in Brüssel oder Antoni Gaudí in Barcelona. In Deutschland gaben insbesondere München, Darmstadt und Berlin den Ton an. Mit dem Hagener Impuls setzte aber auch die westfälische Provinz neue Maßstäbe. Der Belgier Henry van de Velde schuf hier bereits florale Meisterwerke noch bevor er 1901 als künstlerischer Berater für Industrie und Kunsthandwerk an die renommierte Kunstgewerbeschule in Weimar berufen wurde. Aus ihr ging 1919 das Bauhaus hervor. 

»Among the German art cities
Karlsruhe deserves to take the first place.«

Aus der englischen Kunstzeitschrift "The Studio", 1898

In Südwestdeutschland entwickelte sich neben Darmstadt insbesondere Karlsruhe zu einem impulsgebenden Zentrum des Jugendstils. Hermann Billing, Robert Curjel und Karl Coelestin Moser waren hier die tonangebenden Baumeister. Gemeinsam mit weiteren Architekten schufen sie eine bemerkenswerte Dichte und künstlerische Vielfalt an Bauwerken und setzten deutliche stadträumliche Akzente, im Zentrum wie auch im Rande der Stadt. Dazu zählen zahlreiche Kirchen, Stadtvillen, Wohn- und Gewerbebauten, aber auch Stadtmöbel wie der imposante Krautkopfbrunnen am Gutenbergplatz (1905) oder die vielen noch erhaltenen Litfaßsäulen von Friedrich Ratzel (um 1900). Die Karlsruher Jugendstilfassaden waren häufig mit Naturstein in Kombination mit kontrastierenden Putzflächen in orangefarbenem Rot oder warmem Gelb bekleidet. Hinzu kam kunstvoll gefertigtes Schmiedeeisen, das der Botanik nachempfunden war. Um die malerische Wirkung der Anlagen zu steigern, zierten auch Fachwerk und Holzschindeln die prachtvollen Villen der Stadt.

Die Jugendstil-Bauten sind in der Innenstadt und zentrumsnah verteilt, viele davon in der Oststadt wie dieses Beispiel.

Karlsruher Jugendstil

Die Jugendstil-Bauten sind in der Innenstadt und zentrumsnah verteilt, viele davon in der Oststadt wie dieses Beispiel.

Bild vergrößern (Karlsruher Jugendstil)(Abbildung © Jan Dimog, thelink.berlin)
Der von Friedrich Ratzel entworfene Brunnen wird wegen des den Abschluss krönenden Kohls auch "Krautkopfbrunnen" genannt.

Hauptbrunnen am Gutenbergplatz

Der von Friedrich Ratzel entworfene Brunnen wird wegen des den Abschluss krönenden Kohls auch "Krautkopfbrunnen" genannt.

Bild vergrößern (Hauptbrunnen am Gutenbergplatz)(Abbildung © Jan Dimog, thelink.berlin)
Naturstein in Kombination mit kontrastierenden Putzflächen in orangefarbenem Rot prägen häufig die Fassaden, wie dieses Wohnhaus in der Yorckstraße 49 von Herman Bastel (1911).

Karlsruher Jugendstil

Naturstein in Kombination mit kontrastierenden Putzflächen in orangefarbenem Rot prägen häufig die Fassaden, wie dieses Wohnhaus in der Yorckstraße 49 von Herman Bastel (1911).

Bild vergrößern (Karlsruher Jugendstil)(Abbildung © Jan Dimog, thelink.berlin)
Kunstvoll gestaltete Brüstungen aus Schmiedeeisen, die der Botanik nachempfunden sind, zieren viele Gebäude der Oststadt.

Karlsruher Jugendstil

Kunstvoll gestaltete Brüstungen aus Schmiedeeisen, die der Botanik nachempfunden sind, zieren viele Gebäude der Oststadt.

Bild vergrößern (Karlsruher Jugendstil)(Abbildung © Jan Dimog, thelink.berlin)
Das Wohnhaus mit floralem Eingangsbereich in der Yorkstraße 41 wurde 1904 von Ludwig Trunzer errichtet.

Karlsruher Jugendstil

Das Wohnhaus mit floralem Eingangsbereich in der Yorkstraße 41 wurde 1904 von Ludwig Trunzer errichtet.

Bild vergrößern (Karlsruher Jugendstil)(Abbildung © Jan Dimog, thelink.berlin)
Rot-sandfarbene Fassade mit expressiver Balkongestaltung an einem Wohnhaus am Karl-Wilhelm-Platz.

Karlsruher Jugendstil

Rot-sandfarbene Fassade mit expressiver Balkongestaltung an einem Wohnhaus am Karl-Wilhelm-Platz.

Bild vergrößern (Karlsruher Jugendstil)(Abbildung © Jan Dimog, thelink.berlin)
Florales am Wohnhaus in der Yorckstr. von Ludwig Trunzer

Karlsruher Jugendstil

Florales am Wohnhaus in der Yorckstr. von Ludwig Trunzer

Bild vergrößern (Karlsruher Jugendstil)(Abbildung © Jan Dimog, thelink.berlin)
Hermann Billings Auftakt-Bebauung ist wie die dahinterliegende Villenkolonie auffällig durchkomponiert.

Torhaus an der Stephanienstraße

Hermann Billings Auftakt-Bebauung ist wie die dahinterliegende Villenkolonie auffällig durchkomponiert.

Bild vergrößern (Torhaus an der Stephanienstraße)(Abbildung © Jan Dimog, thelink.berlin)
Sein sensilbler Umgang mit Material und Farbe ...

Villenkolonie in der Baischstraße

Sein sensilbler Umgang mit Material und Farbe ...

Bild vergrößern (Villenkolonie in der Baischstraße)(Abbildung © Jan Dimog, thelink.berlin)
 ... sowie die durchgestalten Details vollenden seine Bauten.

Villenkolonie in der Baischstraße

... sowie die durchgestalten Details vollenden seine Bauten.

Bild vergrößern (Villenkolonie in der Baischstraße)(Abbildung © Jan Dimog, thelink.berlin)
Ein besonders schönes Beispiel eines von Billing gestalteten Eingangsbereichs.

Villenkolonie in der Baischstraße

Ein besonders schönes Beispiel eines von Billing gestalteten Eingangsbereichs.

Bild vergrößern (Villenkolonie in der Baischstraße)(Abbildung © Jan Dimog, thelink.berlin)

Jugendstil in Karlsruhe, Teil 2 folgt in Kürze. Weitere Streifzüge zur Architektur in Karlsruhe: hier.

Karlsruhe

Über 313.000 Einwohner (Stand Dez. 2018) und zweitgrößte Stadt des Bundeslandes Baden-Württemberg. Oberzentrum der Region Mittlerer Oberrhein. Einst Haupt- und Residenzstadt des ehemaligen Landes Baden. 1715 vom heutigen Stadtteil Durlach als barocke Planstadt gegründet. Charakteristisch für den ursprünglichen Stadtplan sind die 32 ringsum vom Schloss in die Parkanlagen und den Hardtwald ausstrahlenden Straßen. Der Beiname "Fächerstadt" geht auf diesen fächerförmigen Grundriss zurück. Im Zentrum steht das barocke Karlsruher Schloss. Am Bau ab 1715 waren u. a. Jakob Friedrich von Batzendorf, Balthasar Neumann, Wilhelm Jeremias Müller beteiligt. Heute ist in dem Gebäude das Badische Landesmuseum und ein Teil des Bundesverfassungsgericht untergebracht. Die Bauten des Karlsruher Architekten Friedrich Weinbrenner (1766–1828) waren stadtbildprägend für seine Heimatstadt, da er hauptverantwortlicher Planer und Baumeister für die Umwandlung der kleinen Residenz Karlsruhe in die Hauptstadt des Landes Baden war. Nachdem viele seiner Bauten im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden, wurde einige nach 1945 rekonstruiert, z. B. das Markgräfliche Palais, das Rathaus, die evangelische und katholische Stadtkirche. Seit 1950 ist Karlsruhe Sitz des Bundesgerichtshofs und des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof und seit 1951 des Bundesverfassungsgerichts. Karlsruhe wird daher auch „Residenz des Rechts“ genannt. Zahlreiche Behörden und Forschungsanstalten mit überregionaler Bedeutung sind in Karlsruhe angesiedelt. Unter den neun Hochschulen ist das renommierte Karlsruher Institut für Technologie (KIT) die älteste und größte. Die Stadt ist einer der bedeutendsten europäischen Stadtorte der Informations- und Kommunikationstechnik. Daran knüpft mit dem Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) auch eine der wichtigsten Kultureinrichtungen der Stadt an. Das ZKM feiert 2019 das 30-jährige Bestehen. 2014 überschritt die Einwohnerzahl von Karlsruhe erstmals die 300.000. 2015 feierte Karlsruhe den 300. Stadtgeburtstag.