Amsterdamer Schule, Postmoderne, zeitgenössische Baukunst: Smartcity mit Stil – Architektur in Groningen
Groningen. Niederlande. Die junge Studentenstadt im hohen Norden der Niederlande ist als Zentrum der Forschung, Wissenschaft und des Handels auch ein Hotspot der Baukunst. Von der Amsterdamer Schule über die Postmoderne bis hin zu zeitgenössischen Projekten zeigt sich die Groninger Architektur mal organisch-asymmetrisch, mal nonkonform und meisterhaft im Umgang mit neuesten Techniken. Dabei ist die hiesige Architektur eins nicht: langweilig. Zu Besuch in der smarten Stadt mit Stil.
Groninger Gelassenheit
“Stadt der Talente”: so bewirbt sich die 230.000-Einwohnerstadt im Norden der Niederlande. Weit über 50.000 junge Menschen studieren hier an der Universität und der Fachhochschule und bilden einen Teil der Talente, von denen sich die Stadt Impulse, Ideen und Inspirationen erhofft. Verantwortliche und Bürgerschaft haben Kreative und Kunstschaffende oft unterstützt und gefördert, auch in der Architektur.
Ein Stadtrundgang zu den besonderen Bauten ist entspannt. Das liegt an der Groninger Gelassenheit und der für die Niederlande typischen Infrastruktur, die dem Gehen und Fahrradfahren Priorität einräumt. Eine gute Art, um Architektur in den Niederlanden zu erkunden. Hinzu kommt die kompakte Größe Groningens. Die meisten sehenswerten Projekte – ob Backsteinexpressionismus der Amsterdamer Schule, Projekte ab den 1990ern oder Pavillons von Bernard Tschumi, dem französisch-schweizerischen Architekten des Akropolismuseum in Athen – befinden sich in der “Binnenstad”, dem Zentrum, das keine anderthalb Kilometer Durchmesser misst. Selbst das außerhalb der Binnenstad gelegene Wall House #2 von John Hejduk ist mit dem Fahrrad keine 20 Minuten entfernt. Vom Groninger Museum am Hauptbahnhof sind es etwa ein Kilometer bis zur mittelalterlichen Martinikirche am Grote Markt. Mit dem Fahrrad sind es ca. 5 Minuten.
Groningen war einst Hansestadt. Nordisch-niederländische Ziegelbauten gehören zum Stadtbild. Experimente ebenfalls, gut an den Gebäuden der Amsterdamer Schule zu sehen. Diese entstand im frühen 20. Jahrhundert, als der Architekt Jan Gratama (1877–1947) eine Gruppe junger Architekten 1916 so bezeichnete. Diese bezogen sich in ihrem Schaffen und Stil auf Hendrik Petrus Berlage, der als Pionier der modernen, niederländischen Architektur gilt. Hauptmerkmale der Amsterdamer Schule sind die Verwendung von Backstein und eine ausgeprägte Fassadengestaltung mit starker Gliederung und Verzierungen am Mauerwerk. Typisch sind auch die horizontalen, breiten Fenster. Einige Gebäuden weisen zudem Elemente des Kubismus, Art déco und De Stijl auf.
In Deutschland entwickelte sich zeitgleich zur Amsterdamer Schule und zu den Anfängen des Bauhaus mit dem Backsteinexpressionismus eine Variante expressionistischer Architektur mit ornamentalen, teils eigenwilligen Formen und kantigen, spitzen Elementen, ergänzt um Plastiken und Keramiken bei der Dekoration.
In der Provinz Groningen war die Amsterdamer Schule besonders populär mit Architektur von Egbert Reitsma, Siebe Jan Bouma und Evert Linge. Der Groninger Architekt und Stadtplaner Siebe Jan Bouma (1899–1959) übertrug die Philosophie der Amsterdamer Schule in das Stadtbild seines Heimatortes auf eine mannigfaltige Weise. Bevor er Stadtarchitekt wurde, arbeitete er als Zimmermann und Bauzeichner. Das erklärt die Vielfalt seiner Entwürfe, die von Umspannwerken, Schulen über Wohnbauten und öffentliche Einrichtungen bis hin zu Stadtmöbel und Laternenmasten reichten.
Symbolhaft, bunt, formenreich – das Groninger Museum gegenüber des Hauptbahnhofs ist ein Statement. Wer aus dem Zug steigt und gen Innenstadt geht, muss zwangsläufig an dem Kunstmuseum vorbei. Der Weg ist ein Kunstparkour mit der Skulptur des italienischen Großdesigners Alessandro Mendini, auf der Unterseite der Brücke befinden sich Aufkleber des belgischen Künstlers Wim Delvoye. So eindrücklich und farbig das Museum ist, zu Beginn des Projekts wurde lange und intensiv darum gerungen, so Museumsdirektor Andreas Blühm bei unserem Rundgang. Die Bewohner der nahen Patrizierhäuser fürchteten um den Wert ihrer Immobilien, andere kritisierten die Exzentrik des Entwurfs. Der damalige Museumsdirektor Frans Haks (1938–2006) hatte Mendini als Chefarchitekten für den Neubau beauftragt, da das alte Haus den neuen Anforderungen nach 100 Jahren nicht mehr gerecht wurde. Der Mailänder Meister der selbstsicheren Stil-Synthese lud drei Gastarchitekten ein. Diese Offerte war zugleich die Lösung, die in der “Auflösung” des Museums in drei Pavillons bestand: der zylindrisch-silbrige Philippe Starck-Bau mit dem Backsteinpavillon von Michele de Lucchi, der gelbe Turm von Alessandro Mendini und die dekonstruktivistische Innen-Außen-Struktur von Coop Himmelb(l)au aus Österreich. Der Komplex erscheint durchlässig, offen und wie ein Zusammenspiel von Formen- und Raumensembles. Solisten mit starkem Ego in einem Orchester, das herausfordert und sich mit Sicherheit nicht einschmeicheln möchte. Der Komplex gleicht einer Insel und hat drei große, im Wasser liegende Baukörper, die über Wege und Plätze miteinander verbunden sind. Der mittlere Teil von Mendini ist das Herzstück. Er wird von dem goldenen Turm überragt, den der italienische Designer und Architekt als Depot geplant hatte. Der Pavillon des Gastarchitekten Michele de Lucchi ähnelt einer Backsteinfestung und ist ein Verweis auf die Geschichte der Stadt. Oberhalb des de Lucchi-Baus ist der Starck-Pavillon, der in seiner runden Form an eine Töpferscheibe erinnert. Die Inszenierung mit Gardinen und Vitrinen in Form von großen Eiswürfeln passt zum symbolträchtigen Gebäude. Das Grau steht für die Farbe des Töpfertons, die Risse im Boden und an den Wänden für die narbig-maschenartigen Haarrisse und Sprünge auf der Oberfläche von Steinen, Ölgemälden, Lackierungen und Keramiken.
Der Querkopf der Architekturorchesters ist der Entwurf des Wiener Büros Coop Himmelb(l)au. Frei von Symmetrie schieben sich Teile des Pavillons hinaus, scheinen Räume zu stürzen, Wände zu kippen, Wege zu schweben. Stärker und kompromissloser als in ihrem ebenfalls gelungenen Musée des Confluences in Lyon, Frankreich. Der größte Teil wurde auf einer Schiffswerft nahe Groningen gebaut. Vieles bezieht sich auf den Schiffsbau, die Farben wiederum beziehen sich auf das im Bau verwendete Grundmaterial. Grau steht für Beton, Rot für Stahl, Schwarz für Teer.
Das Museum ist sich auch bei der Revitalisierung treu geblieben. Museumsdirektor Blühm erklärt, dass man nach Mendinis Zustimmung junge Designer wie Maarten Baas, Studio Job und Jaime Hayon beauftragte mehrere Räume, das Restaurant und die Job Lounge sowie das Info Center neu zu gestalten. 2019 ist das Jubiläumsjahr für das Groninger Museum, das es mit einem prallen Ausstellungsprogramm zelebriert. Von “Mondo Mendini” des Chefarchitekten Alessandro Mendini, der im Frühjahr 2019 verstarb bis zu dem eigens für das Groninger Museum entwickelten Kunstwerk des Designavantgardisten Daan Roosegaarde. Der Titel der interaktiven Arbeit: Presence.
Die historischen Gebäude der Innenstadt bestimmen das Bild der fast 1000 Jahre alten Hansestadt Groningen. Doch sowohl hier als auch außerhalb des Zentrums sind viele zeitgenössische Bauten entstanden. Bemerkenswert ist der Mut zu Architektur mit ungewöhnlichen Formen und Farben und das Zusammenspiel aus Kubaturen und Komplexität, das oft leicht, heiter und damit sehr souverän daherkommt. Das organisch-asymmetrische Gasunie-Gebäude aus den Neunzigerjahren spielte in der Entwicklung der neueren Stadtgeschichte eine wichtige Rolle. Das 2001 fertiggestellte Wall House II des tschechisch-amerikanischen Baukünstlers und Architekturlehrers John Hejduk wiederum erscheint skulptural und surreal. Ein Haus der Farben, Symbolik und fast ohne Ecken. Es steht stellvertretend für Groningens Herangehensweise an die Möglichkeiten der heutigen Architektur. In vielen Neubauten führen die Planer und Gestalter Asymmetrie, Nonkonformistisches und die meisterhafte Nutzung der heutigen Technologien zusammen. Ohne Selbstzweck zu sein. Auch das ist ein Talent Groningens.
Wir danken Marketing Groningen / Visit Groningen sowie den Partnern für die Einladung zu der redaktionell unabhängigen Recherchereise! Weitere Architekturgeschichten über die Baukunst in den Niederlanden: hier.