Brabant ist offen – Himmelwärts
Auf Reisen:Wie das knapp 50 Kilometer entfernte Helmond erlebte Tilburg seine Blüte im frühen 20. Jahrhundert. Wolle und Textilien wurden in großem Maß industriell verarbeitet. Überall in den malerischen Gassen findet man zwischen zwei- bis dreigeschossigen Ziegelsteinbauten alte Industrieareale, die mittlerweile ungenutzt sind. So wie das 2008 eröffnete TextielMuseum nördlich des Bahnhofs. Das junge niederländische Büro cepezed ergänzte den historischen Backsteinbestand durch Stahl und Glas und schaffte damit einen zeitgemäßen Zugang zur Ausstellung über die niederländische Textilgeschichte. Dampfgetriebene Webstühle rattern neben computergesteuerten Textilautomaten der Gegenwart. Dabei ist das Museum auch heute noch eine vollständige Textilfabrik, in der eine umfangreiche Textildesign-Kollektion produziert und gezeigt wird. Im „TextielLab“ haben Designer die Möglichkeit mit Stoffen zu experimentieren, zu weben, lasern und plotten. Konzept und Architektur überzeugen. 2018 wurde dem Haus der internationale „The Best in Heritage Award“ verliehen. Zudem zählt es zu den Ankerpunkten der Europäischen Route der Industriekultur (ERIH). In anderen Bauten haben sich Unternehmen der Kreativindustrie niedergelassen oder Brauereien wie in der alten „Meelfabriek“ am Piushaven. Das honigfarbene Ensemble ist ein besonders schönes Zeugnis der Amsterdamer Schule. Der Tilburger Architekt Jos Schijvens ließ sich 1935 von der Form eines Schiffes inspirieren. Auch andernorts hinterließ die niederländische Architekturströmung Spuren in der Stadt. So weht ein zarter Hauch der 1920er- und 1930er-Jahre durch die Straßen.
Kultur als Stadtentwickler
„Kroepoek“ (dt. Krupuk) nennen die Tilburger Ihren Bahnhof. Das aus hyperbolischen Paraboliden gefügte Dach scheint über den Gleisen zu schweben. Erst 2018 wurde der Bau nach umfassender Renovierung und einigen Veränderungen wiedereröffnet. Der expressive Entwurf kam bereits 1965 vom niederländischen Bahnhofsarchitekten Koen van der Gaast, der auch den Eindhovener Bahnhof in Gestalt eines Philipps-Radios gestaltete. Die Tilburger Station war richtungsweisend zu seiner Zeit und seine zeitlose Gestalt ist noch heute verblüffend. An seiner Westseite schützt seit 2019 ein sanft geschwungenes Dach vorm feucht-gräulichen Tilburger Wetter. Den strahlend weißen Busterminal wie auch die gesamte Umgestaltung des Verkehrsknotenpunktes kommen auch hier vom Delfter Büro cepezed. Ihr Tilburger Busbahnhof ist verkehrsflussoptimiert, inklusiv gestaltet und erzeugt die benögte Energie selbst auf dem auskragenden Flachdach. Es leuchtet, sobald sich die Sonne verabschiedet. Als erstes autark betriebenes Busterminal der Niederlande ist auch dieses zukunftsweisend.
Stadtplatz statt Stellplatz
In der Spoorzone (dt. Gleiszone) rund um den Bahnhof entstand in den vergangenen Jahren das neue kulturelle Zentrum der Stadt. Dort wo von 1886 bis 2011 an Zügen geschweißt und geschraubt wurde, entschied man sich, nicht großflächig abzureißen, sondern geschickt umzunutzen. In alten Waggons wird geschlemmt, in Lagerhallen geskatet und in Fabriketagen loftmäßig gewohnt. Längst wird über Tilburgs neue Bibliothek LokHal weit über die Grenzen des Landes gesprochen. „Wir haben beinahe täglich Gäste aus aller Welt,“ heißt es bei einer Führung durchs Haus. „Die LocHal macht nicht nur die Mitarbeiter stolz, sondern die ganze Stadt.“ Nach Jahren des Schattendaseins und der Deindustrialisierung liegt wieder Aufbruchsstimmung in der Stadt. Eigentlich sollte hier ein Parkhaus entstehen. Glücklicherweise wackelte dessen Wirtschaftlichkeit und so wurde Kultur zum Stadtentwickler. Was wesentlich besser wirkt als Autos. Das Haus ist nicht nur architektonisch innovativ, sondern auch programmatisch. Es steht jedem offen und wirkt wie ein überdachter Stadtplatz. Einst wurden in der bis zu 18 Meter hohen, 1932 errichteten Halle Lokomotiven repariert. Seit 2019 verschmelzen hier eine moderne öffentliche Bibliothek, ein Wissens- und Kompetenzzentrum für Kultur und Kunst (Kunstloc Brabant), ein regionales Investitionsfondsbüro (Brabant C), eine Reihe buchbarer Arbeitsräume (seats2meet) und ein Café zum neuen Wohnzimmer der Stadt. Hallenhohe Vorhänge, die im nahen TextielMuseum entwickelt und hergestellt wurden, trennen bei Bedarf kleinere Räume innerhalb der terrassierten Halle ab. Die LocHal wirkt wie ein Innovationsmotor der gesamten Stadt und reiht sich ein in eine neue Generation von Bibliotheken wie die in Medellín von Giancarlo Mazzanti Arquitectos, Dokk1 von Schmidt Hammer Lassen in Aarhus oder die gerade eröffnete Hunters Point Library auf Long Island von Steven Holl.
Hoch hinaus
Weniger behutsam erscheinen da manche Großbauten im Stadtzentrum. Riesige Wohnmaschinen haben gewaltige Schneisen in die kleinteilige Bebauung geschnitten. Hier und da wirkt es etwas zugig. Doch erhält die Stadt durch den Kontrast dieser verschiedenen Maßstäbe erstaunlicherweise ihren besonderen Reiz. Angst vor „zu hoch“ gibt es hier nicht. Auch entlang der Kaimauern des kleinen Piushavens wachsen Punkthochhäuser empor. Zu den ungewöhnlichsten Apartmenthäusern im Zentrum zählt sicherlich der Duikklok von Bedaux de Brouwer Architecten. Auf den ersten Blick erscheint der Wohnturm wie ein dicker Schornstein oder ein steinernes Silo, allerdings ein sehr exklusives. Jacq. de Brouwer stapelte zwei Wohneinheiten übereinander. Der runde Grundriss vermittelt zwischen der vielfältigen Stadtstruktur. Große Öffnungen und Loggien rahmen die Ausblicke in verschiedene Richtungen. Die Fassade ist mit dunkel glasierten Ziegelsteinen bekleidet. Die Architekten entwarfen auch die angrenzenden Apartmenthauszeilen. Von Eintönigkeit ist allerdings nicht viel zu spüren. Das gesamte neugestaltete Quartier erscheint wie eine gelungene Hommage an das industrielle Erbe der Stadt.
Hoch hinaus geht es mit De Stadsheer in der Nähe des Bahnhofs. Vor der weißen Fassade hängen vor jeder Wohnung sogenannte Sonnenräume, die von den Tilburgern liebevoll „Vogelkooikes“ (dt. Vogelkäfige) genannt werden. Am Fuße des Turms entstand ein besonders gelungenes Wohnheim. Der Talent Square von Bo.2 architectuur gruppiert sich um mehrere Innenhöfe. Die umlaufenden Laubengänge und geschickt gelegte Aufweitungen werden hier zur Begegnungszone der Bewohner. Der Westpoint Tower in Sichtweite am westlichen Stadtrand war mit 143 Metern kurzzeitig sogar das höchste Gebäude der Niederlande und zählt heute zu den Wahrzeichen der Stadt. Margriet Eugelink von Van Aken Architektuur gliederte die Fassade wirkungsvoll mit vertikalen und horizontalen Betonelementen an der Ost- und Westseite des Turms und ließ sie in verschiedenen Farben lackieren.
Tilburg
Die Stadt ist eine Gemeinde in den Niederlanden. Die Gemeinde umfasst die Stadt Tilburg und die Dörfer Udenhout und Berkel-Enschot mit einer Gesamtfläche von etwa 119 km2. Die Einwohnerzahl des schnell wachsenden Orts lag am 31. Januar 2019 bei 217.595. Tilburg liegt in der Mitte der Provinz Noord-Brabant, zwischen Breda im Westen und ’s- Hertogenbosch und Eindhoven im Osten. Tilburg hat eine vielseitige Industrie, unter anderem Chemie, Foto- und Bürobedarf (Fuji), Druckereien und einen großen Schlachthof. Im Dienstleistungsbereich sind der Hauptsitz einer Bank und zweier großer Versicherungsgesellschaften (Interpolis, CZ Groep) zu nennen. Dazu gibt es noch viele kleinere Unternehmen aller Art. Tilburg hat eine Universität, eine wichtige Musik- und mehrere andere Fachhochschulen (mit Infos von Wikipedia).
TextielMuseum
Goirkestraat 96, 5046 GN Tilburg. Öffnungszeiten: Di.–Fr. 10– 17 Uhr, samstags und sonntags 12–17: Uhr, montags geschlossen
LocHal
Burgemeester Brokxlaan 1000, 5041 SG Tilburg. Öffnungszeiten: werktags 8–22 Uhr, samstags 9–17 Uhr, sonntags 12–17 Uhr, Eintritt frei