Kubismus und Funktionalismus in Prag – Seit langem modern
Prag ist ein Bilderbuch der Baustile. Auf vergleichsweise engem Raum, in fußläufiger Distanz, sind Zeugnisse einer über tausendjährigen Geschichte aufbewahrt. Vom Burgviertel Hradschin über die Karlsbrücke und den Altstädter Ring durch die Neustadt um den Wenzelsplatz begegnen wir romanischen Rotunden, gotischen Türmen, Renaissancepalästen, Klöstern und Kirchen des Barock und farbenfrohen Jugendstilbauten. Sogar Synagogen haben überdauert, die älteste aus dem 13. Jahrhundert. Die Bomber des Zweiten Weltkriegs haben die Stadt nur gestreift. Der versehentliche Angriff einiger US-Maschinen, die eigentlich auf dem Weg nach Dresden waren, riss unter anderem eine Lücke am Ufer der Moldau, die später das Tanzende Haus von Frank Gehry und Vlado Milunić füllte.
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg, dessen Ausgang die lange ersehnte Eigenstaatlichkeit bringen sollte, setzten die Tschechen in Prag ein architektonisches Zeichen für ihr gewachsenes Selbstbewusstsein. Mit dem Obecní dům, dem Gemeindehaus, schufen die besten Künstler und Handwerker des Landes einen Jugendstilpalast mit 14.000 Kubikmetern umbauten Raums, dessen Salons, Säle und Restaurants bis heute opulente Orte für Konzerte, Feste und Konferenzen bieten. Doch den Schritt in die Moderne tat zur gleichen Zeit eine kleine Gruppe avantgardistischer Architekten, die sich von Picasso und Braque mit ihrer kubistischen Reduzierung eines Objekts auf geometrische Figuren wie Kugel, Kegel und Pyramide anregen ließen. Der Prager Kubismus zielte ähnlich wie das Bauhaus auf ein Gesamtkonzept des Gestaltens von Gebäuden, Möbeln, Gebrauchsgütern und Grafik ab. Ihm blieb nur wenig Zeit. Versuche, ihn in der jungen tschechoslowakischen Republik mit nationaler Symbolik aufzuladen, führten nicht weiter, und bald bestimmte der Funktionalismus das neue Bauen auch in Prag.
Mehr Architekturgeschichten von Ludwig Moos, z. B. über Kaunas, Europas Kulturhauptstadt 2022: hier.
Architekten des Kubismus und Funktionalismus
Josef Gočár (1880 – 1945)
Zum modernen Bauen in Prag hat Josef Gočár maßgeblich beigetragen. Nach dem Studium an der Prager Kunstgewerbeschule unter Professor Jan Kotera arbeitet er in dessen Architekturbüro, bevor er 1912 mit dem Haus zur Schwarzen Muttergottes die kubistische Architektur mitbegründet. Er hilft auch, das Prager Kunsthandwerk zu organisieren, und entwirft selbst Möbel, Lampen und Uhren. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt er zusammen mit Pavel Janák den Rondokubismus, eine Art Nationalstil mit stark in Rundformen gegliederten Fassaden. Bestes Beispiel dafür ist die Legio-Bank in Prag. Ab Mitte der zwanziger Jahre wendet er sich dem Funktionalismus zu. Er baut die St. Wenzel-Kirche in Prag-Vršovice und drei Villen in der Werkbund-Siedlung Baba.
Josef Chochol (1880 – 1956)
hat an der Technischen Hochschule in Prag und bei Otto Wagner an der Akademie der Bildenden Künste in Wien studiert. Er zählt mit seinen Villen und Mietshäusern im Stadtteil Vyšehrad zu den entschiedensten Vertretern eines schnörkellosen Kubismus. Das gilt auch für die von ihm entworfenen Möbel, die in Prags kubistischem Museum zu sehen sind. Seine Bauten in den dreißiger Jahren kultivieren den Funktionalismus.
Josef Fuchs (1894 – 1979)
Der an der Kunstgewerbeschule in Prag zum Architekten ausgebildete Josef Fuchs widmet sich früh dem Ausstellungsbau und strebt dabei nach maximaler Funktionalität. Mit dem 1928 eröffneten Messepalast, den er zusammen mit Oldřich Tyl entwirft, gelingt ihm sein Meisterwerk. Zur Werkbund-Siedlung Baba steuert er eine Villa bei.
Oldřich Tyl (1884 – 1939)
studiert Architektur und Tiefbau an der Technischen Universität Prag. Er ist Mitbegründer der Baugesellschaft Tekta, die sich auf den Stahlbetonskelettbau spezialisiert. Mit Josef Fuchs errichtet er den puristischen Messepalast. Zu seinen letzten Arbeiten zählt eine der berühmten Einkaufspassagen Prags, die Černá růže (Schwarze Rose) am Graben mit ihren denkmalgeschützten Galerien und Decken aus Beton und Glas.
Pavel Janák (1882 – 1956)
Als Architekt, Stadtplaner und Designer von Möbeln und Keramik hat Pavel Janák theoretisch und praktisch viel zum Aufbruch in die Moderne beigetragen. Nach dem Studium an der Technischen Universität in Prag und bei Otto Wagner an der Kunstakademie in Wien arbeitet er eng mit Josef Gočár bei der Ausformung des Kubismus zusammen. Mit dem Adria-Palast errichtet er 1924 in Prag eine Ikone des Rondokubismus, danach wendet er sich dem Funktionalismus zu. Als Vorsitzender des Tschechischen Werkbundes entwirft er den Rahmenplan für die Siedlung Baba und baut dort zwei Villen, eine davon für sich selbst. Später befasst er sich mit Denkmalschutz und wird Hauptarchitekt der Prager Burg.
Karel Lhota (1894 – 1947)
unternimmt nach der Ausbildung zum Architekten und Bauingenieur in Prag ausgedehnte Studienreisen durch Deutschland, Belgien, Frankreich und den Niederlanden. Seine weitgespannten Interessen schließen Theater und Bühnenbild mit ein. Seit 1925 hat er einen Lehrauftrag in Pilsen und lernt dort Adolf Loos kennen, den er publizistisch fördert und beim Ausbau der inzwischen für Besucher wieder hergerichteten Wohnungen der Familien Hirsch, Brummel und Beck unterstützt. Der Verfechter strenger Formen in der Architektur empfiehlt Loos dem Bauunternehmer František Müller, der die beiden mit dem Neubau einer Villa in Prag beauftragt.
Adolf Loos (1870 – 1933)
ist in Brünn aufgewachsen und als Baumeister und Innenarchitekt weitgehend Autodidakt, an Hochschulen gibt er nur Gastspiele. Der begnadete Polemiker und Netzwerker verschafft sich nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Chicago, Philadelphia und New York in Wien soviel Aufmerksamkeit, dass er bis 1911 am Michaelerplatz gegenüber der Hofburg ein stattliches Wohn- und Geschäftshaus errichten kann. Trotz der Verkleidung des Erdgeschosses mit Cipollino-Marmor aus Euböa und der Bay-Windows im Mezzanin löst der Bau mit seinen puristischen Obergeschossen einen Skandal aus. Nach der Auflösung des Habsburger Reiches nimmt Loos die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft an. Er verwirklicht Aufträge in Paris und Pilsen, aber vor allem in Prag mit seinem Meisterwerk, der Villa Müller.